ROUNDUP, Massaker

Mit strahlendem Blick feiert Labour-Chef Keir Starmer seinen Sieg bei der britischen Parlamentswahl.

05.07.2024 - 06:24:05

'Massaker' für Premier Sunak - Labour-Chef Starmer auf Kurs

Der 61-Jährige und seine Partei feiern einen beispiellosen Triumph. Landesweit erobern die Sozialdemokraten zahlreiche Wahlkreise von den Konservativen des schwer geschlagenen Premierministers Rishi Sunak, denen nun ein Richtungsstreit droht. Am Freitag dürfte König Charles III. Starmer offiziell mit der Regierungsbildung beauftragen.

Der Nachwahlbefragung zufolge fährt die konservative Regierungspartei von Premierminister Sunak das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ein. Für den Regierungschef ist es mehr als nur eine Wahlschlappe, es ist eine Demütigung. Seine Partei dürfte nun vor einer kompletten Neuordnung stehen. "Die Labour-Partei hat diese Parlamentswahl gewonnen, und ich habe Sir Keir Starmer angerufen, um ihm zu seinem Sieg zu gratulieren", sagt Sunak sichtlich niedergeschlagen. Er deutet seinen Rückzug von der Parteispitze an.

Die jüngste BBC-Prognose sieht Labour bei 405 der 650 Sitze im Unterhaus (House of Commons), etwas weniger als zunächst angenommen. Bei der vorigen Wahl 2019 hatte die Partei bloß 202 Mandate geholt. Die Konservativen brechen demnach von 365 auf 154 Sitze ein. Die Regierungsmehrheit von Labour wäre damit doppelt so groß wie die der Konservativen bisher.

Viele Stimmen gingen an die rechtspopulistische Partei Reform UK. Deren Vorsitzender Nigel Farage, der einst den Brexit maßgeblich vorangetrieben hatte, schaffte es im achten Anlauf erstmals ins Unterhaus.

Die Auszählung dauerte am Morgen weiter an, doch am wichtigsten Ergebnis der Wahl zweifelt niemand mehr: Die 14 Jahre währende Dominanz der konservativen Tories ist krachend beendet. Als mögliche Nachfolgerinnen Sunaks an der Parteispitze gelten Wirtschaftsministerin Kemi Badenoch und Ex-Innenministerin Suella Braverman, die beide zum rechten Parteiflügel gehören.

Starmer verspricht Wandel

In seiner ersten Reaktion versprach der designierte Premier Starmer Veränderungen im Land. "Die Menschen haben gesprochen, sie sind bereit für den Wandel. Sie haben abgestimmt und es ist an der Zeit, dass wir liefern", sagte er.

Der Labour-Chef siegte in seinem Londoner Wahlkreis Holborn and St Pancras deutlich. Allerdings verlor er im Vergleich zur vorigen Abstimmung 2019 rund 17 Prozentpunkte. Das lag vor allem an der hohen Zustimmung für einen unabhängigen Kandidaten, der sich deutlich gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen ausgesprochen hatte. Der Labour-Spitzenpolitiker Jonathan Ashworth verlor sogar überraschend seinen Wahlkreis an einen propalästinensischen Bewerber und hat damit kaum mehr Chancen auf einen Kabinettsposten.

Für Sunaks Konservative gleicht die Wahl einem Alptraum. "Erdrutsch" und "Massaker" lauten einige Schlagzeilen der britischen Presse nach Bekanntwerden des Desasters. Mehrere Kabinettsmitglieder verloren ihre Sitze, darunter Verteidigungsminister Grant Shapps, Bildungsministerin Gillian Keegan sowie Penny Mordaunt - die Ministerin für Parlamentsfragen galt bisher als Favoritin auf Sunaks Nachfolge.

"Für mich ist klar, dass Labour die Wahl heute Abend nicht gewonnen hat, sondern dass die Tories sie verloren haben", sagte Shapps. "Wir haben eine grundlegende Regel der Politik vergessen. Die Leute wählen keine gespaltenen Parteien." Kommentatoren erwarten nun einen regelrechten "Bürgerkrieg" unter den Tories.

Auch schottische Unabhängigkeitspartei erleidet Niederlage

Mandate verloren haben die Konservativen wohl nicht nur an Labour. Auch die Liberaldemokraten scheinen erhebliche Zugewinne auf Kosten der Tories verbuchen zu können. Sie kommen laut der jüngsten BBC-Prognose auf 56 Sitze - bisher waren es nur 11. Seine Partei sei auf Kurs zu ihrem besten Ergebnis in einem Jahrhundert, frohlockt Libdem-Chef Ed Davey.

Auch für die schottische Unabhängigkeitspartei SNP sieht es nach einer verheerenden Niederlage aus. Sie sackt der Prognose zufolge von 48 auf 6 Mandate ab - ein "sehr schwaches" Ergebnis, wie der schottische Regierungschef John Swinney einräumt.

Als Sieger fühlen sich hingegen die Rechtspopulisten um Farage, auch wenn sie nur wenige Mandate erhalten. Denn im britischen Mehrheitswahlrecht gewinnt die Kandidatin oder der Kandidat mit den meisten Stimmen den Wahlkreis - alle anderen Stimmen haben keine Auswirkung. Farage dürfte mit seiner überraschenden Kandidatur erheblich zum schlechten Ergebnis der Konservativen beigetragen haben, weil er ihnen Wähler am rechten Rand abspenstig machte.

Weniger Begeisterung für Labour als Verdruss über Tories

Überraschend ist das Debakel der Tories nicht: Meinungsforscher sahen den deutlichen Sieg der Sozialdemokraten lange kommen. Im Wahlkampf konnte Sunak kaum aufholen. Seine Partei hatte mit Pannen und einem Skandal um illegale Wetten auf den mutmaßlichen Wahltermin zu kämpfen.

Verantwortlich für den klaren Ausgang der Wahl ist nach Ansicht des renommierten Meinungsforschers John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow nicht in erster Linie Begeisterung für Labour, sondern Verdruss über die bisherige Regierungspartei. Sunak war bereits der dritte Regierungschef seiner Partei in der vergangenen Legislaturperiode, die von wirtschaftlicher Stagnation und stark steigenden Lebenshaltungskosten geprägt war.

Starmer führte seine Arbeiterpartei in den vergangenen Jahren wieder in die politische Mitte, nachdem sie unter seinem Vorgänger Jeremy Corbyn - dem nun als Unabhängigen die Wiederwahl gelang - weit nach links gerückt war. Zudem ging er entschieden gegen antisemitische Tendenzen in den eigenen Reihen vor.

Was politische Inhalte angeht, blieb der bisherige Oppositionschef Starmer in vielen Bereichen eher vage. So ging er bei seinen Plänen für eine mögliche Annäherung mit der Europäischen Union nicht ins Detail. Auch in anderen Fragen schien er bislang vor allem darauf bedacht, keine Angriffsfläche zu bieten und potenzielle Wähler nicht zu verschrecken. Manche Kommentatoren vergleichen seine behutsame Art deshalb mit dem Tragen einer Porzellanvase aus der chinesischen Ming-Dynastie.

@ dpa.de