Russmedia-Urteil, EuGH

Russmedia-Urteil: EuGH verpflichtet Online-Plattformen zur Datenkontrolle

05.12.2025 - 23:59:12

LUXEMBURG – Online-Marktplätze können sich nicht länger hinter ihrer Rolle als neutrale Vermittler verstecken. Das hat der Europäische Gerichtshof diese Woche klargestellt und damit die Spielregeln für digitale Plattformen grundlegend verändert. Wer mit Nutzerdaten Geld verdient, trägt auch die Verantwortung dafür – selbst wenn die Inhalte von Dritten stammen.

Die Entscheidung vom 2. Dezember im Fall X gegen Russmedia Digital (C-492/23) schafft erstmals verbindliche Klarheit: Plattformen, die nutzergenerierte Inhalte zu eigenen kommerziellen Zwecken verarbeiten, gelten als „gemeinsam Verantwortliche” im Sinne der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Die Folge? Eine drastische Ausweitung der Haftung – und das Ende der „Notice-and-Takedown”-Ära.

Ausgangspunkt war eine rumänische Klage gegen den Marktplatzbetreiber Russmedia Digital. Auf der Plattform hatte ein anonymer Nutzer eine Anzeige mit persönlichen Daten und Fotos einer Frau ohne deren Einwilligung veröffentlicht. Russmedia reagierte binnen einer Stunde und löschte den Inhalt. Doch die juristische Kernfrage blieb: Haftet die Plattform bereits für die ursprüngliche Datenverarbeitung als „Verantwortlicher”?

Die Antwort der Luxemburger Richter fiel eindeutig aus. Wer als Plattformbetreiber einen „maßgeblichen Einfluss” auf die Verarbeitung personenbezogener Daten ausübt, trägt die Verantwortung eines Controllers – gemeinsam mit dem jeweiligen Nutzer. Dieser Einfluss liegt laut EuGH vor, wenn die Plattform Daten für eigene Geschäftszwecke nutzt: Suchmaschinenoptimierung, Anzeigenauslieferung, Reichweitensteigerung.

Anzeige

Passend zum Thema Plattform-Haftung: Ein lückenloses Verzeichnis der Verarbeitungstätigkeiten ist jetzt unerlässlich – Prüfende Behörden verlangen transparente Dokumentation. Mit der kostenlosen, vollständig bearbeitbaren Excel-Vorlage für das Verarbeitungsverzeichnis nach Art. 30 DSGVO erstellen Sie in unter einer Stunde alle notwendigen Einträge, inklusive praktischer Anleitung. Schützen Sie Ihr Unternehmen vor Bußgeldern und sparen Sie wertvolle Zeit. Verarbeitungsverzeichnis-Excel herunterladen

Gemeinsame Verantwortung: Was das konkret bedeutet

Das Konzept der „gemeinsamen Verantwortlichkeit” nach Artikel 26 DSGVO kennt man bereits aus früheren EuGH-Urteilen, etwa zum Thema Facebook-Fanpages. Doch die Russmedia-Entscheidung geht einen Schritt weiter: Sie überträgt diese Logik explizit auf Online-Marktplätze mit nutzergenerierten Anzeigen.

Die entscheidende Erkenntnis der Richter: Plattformen müssen weder Zugriff auf die konkreten Dateninhalte haben noch jede einzelne Anzeige prüfen, um als Mitverantwortliche zu gelten. Allein durch die Festlegung der Rahmenbedingungen, Nutzungsbedingungen und Geschäftsstrategie bestimmen sie bereits mit, wie Daten verarbeitet werden.

Besonders brisant: Sobald Daten online veröffentlicht werden, können sie von unbegrenzt vielen Personen eingesehen werden – das Risiko für Betroffene steigt exponentiell. Die Plattform, die dieses „Zugänglichmachen” ermöglicht, trägt deshalb automatisch eine Mitverantwortung. In der Praxis bedeutet das: Marktplätze müssen nun mit jedem einzelnen Nutzer Vereinbarungen nach Artikel 26 DSGVO treffen – eine logistische Herausforderung bei Millionen privater Inserenten.

Screening-Pflicht statt Reaktion: Der operative Paukenschlag

Die unmittelbarste Konsequenz des Urteils: Online-Marktplätze müssen künftig proaktiv handeln. Der EuGH fordert „geeignete technische und organisatorische Maßnahmen”, um die DSGVO-Konformität bereits vor der Veröffentlichung sicherzustellen.

Das kommt einer Screening-Pflicht gleich. Plattformen können sich nicht mehr darauf verlassen, rechtswidrige Inhalte erst nach einem Hinweis zu entfernen. Sie müssen nun überprüfen, ob nutzergenerierte Anzeigen personenbezogene Daten enthalten und ob eine Rechtsgrundlage für deren Veröffentlichung existiert.

„Russmedia kann sich nicht seiner Verantwortung entziehen mit der Begründung, es bestimme nicht selbst über den Inhalt der Anzeige”, stellt die Kanzlei Taylor Wessing in ihrer Analyse fest. Die Last verschiebt sich vom einzelnen Nutzer zur Plattform – Datenschutz-Checks müssen direkt in den Anzeigen-Upload integriert werden.

Ein engeres Netz für Big Tech

Das Urteil reiht sich ein in eine Serie von EU-Entscheidungen, die digitale Plattformen zunehmend in die Pflicht nehmen. Es baut auf Präzedenzfällen wie Fashion ID und Wirtschaftsakademie auf, geht aber einen entscheidenden Schritt weiter: Erstmals trifft die erweiterte Controller-Haftung den Kernbereich des Geschäftsmodells von Kleinanzeigen- und Marktplatz-Portalen.

Indem der EuGH die DSGVO-Haftung an die „kommerziellen Zwecke” der Plattform knüpft, schließt er eine Lücke, durch die sich Betreiber bisher als bloße „Boten” aus der Verantwortung ziehen konnten. Die Entscheidung fügt sich nahtlos in die EU-Strategie ein, wie sie bereits der Digital Services Act verkörpert: Wer mit Inhalten und Daten Geld verdient, muss auch deren Rechtmäßigkeit garantieren.

Marktbeobachter rechnen mit deutlich steigenden Compliance-Kosten. Automatisierte Moderationssysteme müssen künftig nicht nur illegale Inhalte wie Hassrede oder Urheberrechtsverletzungen erkennen, sondern auch Datenschutzverstöße. Eine technische Herausforderung, die besonders kleinere Anbieter unter Druck setzen dürfte.

Was jetzt auf Plattformen zukommt

Der Fall geht nun zurück an die rumänischen Gerichte, die auf Basis der EuGH-Vorgaben eine Endentscheidung treffen werden. Die Rechtsauslegung des Europäischen Gerichtshofs ist jedoch sofort in allen Mitgliedstaaten bindend.

In den kommenden Monaten dürften nationale Datenschutzbehörden ihre Leitlinien für Online-Plattformen überarbeiten. Marktplatz-Betreiber sollten sich auf eine Welle von Anfragen zu „Joint-Controller”-Vereinbarungen einstellen – und auf verschärfte Kontrollen ihrer Datenerfassungsprozesse.

Bis Anfang 2026 werden die meisten großen Kleinanzeigen-Portale voraussichtlich strengere Identitätsprüfungen für Inserenten einführen müssen, um ihre eigenen Haftungsrisiken zu minimieren. Die Ära des unkomplizierten, anonymen Kleinanzeigen-Uploads dürfte damit endgültig vorbei sein.

Anzeige

PS: Marktplätze müssen künftig Joint-Controller-Vereinbarungen und klare Dokumentation nachweisen – viele Betreiber unterschätzen die Risiken. Diese Gratis-Vorlage zeigt, welche Felder Prüfer erwarten, wie Sie Verantwortlichkeiten sauber dokumentieren und welche Nachweise sofort verlangt werden können. Ideal für Datenschutzbeauftragte und Geschäftsleitungen, die Haftungsrisiken minimieren möchten. Jetzt kostenlose Vorlage für Verarbeitungsverzeichnis sichern

@ boerse-global.de