EuGH, BAG

EuGH und BAG setzen neue Leitplanken im Arbeitsrecht

14.11.2025 - 14:41:12

Eine turbulente Woche für Deutschlands Arbeitswelt: Innerhalb weniger Tage fällten europäische und deutsche Richter weitreichende Urteile, die Millionen Beschäftigte betreffen. Der Europäische Gerichtshof verteidigte am Dienstag die EU-Mindestlohnrichtlinie – kippte aber gleichzeitig zentrale Passagen, die zu tief in nationale Kompetenzen eingriffen. Nur 48 Stunden später stärkte das Bundesarbeitsgericht befristet Beschäftigte gegen diskriminierende Tarifklauseln. Während die Gerichte Fakten schaffen, wartet die Wirtschaft weiter auf das längst überfällige Arbeitszeiterfassungsgesetz. Die Botschaft ist klar: Europarecht gewinnt an Einfluss, die Tarifautonomie stößt an neue Grenzen.

Die Klage Dänemarks gegen die EU-Mindestlohnrichtlinie sollte zum Showdown werden – wurde es aber nur halb. Der EuGH lehnte am 11. November die vollständige Nichtigerklärung ab, kassierte aber zwei heikle Bestimmungen (Az. C-19/23).

Besonders brisant: Die Richtlinie schrieb den Mitgliedstaaten detailliert vor, nach welchen Kriterien sie ihre Mindestlöhne festzusetzen haben – Kaufkraft, Lohnniveau, Produktivität. Zu viel Einmischung, urteilten die Luxemburger Richter. Die EU darf soziale Standards setzen, aber nicht direkt Löhne diktieren. Auch eine Regelung, die Lohnsenkungen bei automatischer Inflationsanpassung verbot, fiel.

Was bleibt? Der Kern der Richtlinie steht felsenfest. Besonders brisant für Deutschland: Länder mit einer Tarifbindungsquote unter 80 Prozent müssen einen Aktionsplan vorlegen, um Tarifverhandlungen zu stärken. Die Bundesrepublik liegt deutlich darunter – der Druck auf die Regierung wächst, bis Jahresende zu liefern.

Karlsruhe stoppt Tarifklauseln auf Kosten befristet Beschäftigter

Das Bundesarbeitsgericht legte am 13. November nach – und zwar mit Wucht. Im Fall eines Zustellers entschied das höchste deutsche Arbeitsgericht, dass diskriminierende Tarifverträge sofort nichtig sind (Az. 6 AZR 131/25). Keine Nachbesserungsfrist für die Tarifpartner, keine Geduld für kreative Klauseln.

Der konkrete Fall: Ein Arbeitnehmer wurde nach einer befristeten Phase erneut eingestellt. Eine neue Tarifregelung verlängerte für “neu” eingestellte Mitarbeiter die Aufstiegsfristen – auch für ihn, obwohl er faktisch nicht neu im Unternehmen war. Im Vergleich zu dauerhaft Beschäftigten eine klare Benachteiligung.

Die Richter stellten klar: Verstößt eine Tarifregelung gegen das europarechtliche Diskriminierungsverbot, hat der betroffene Arbeitnehmer sofort Anspruch auf Gleichstellung mit den Dauerbeschäftigten. Den Tarifpartnern wird keine Chance zur Korrektur eingeräumt. Was bedeutet das? Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände müssen ihre Tarifverträge dringend auf den Prüfstand stellen – sonst drohen kostspielige Klagen.

Arbeitszeiterfassung: Das Gesetz, das nie kam

Während die Gerichte entscheiden, schweigt der Gesetzgeber. Seit dem BAG-Grundsatzurteil vom September 2022 besteht die Pflicht zur systematischen Zeiterfassung – doch konkrete gesetzliche Vorgaben? Fehlanzeige.

Der Referentenentwurf des Arbeitsministeriums von April 2023 sieht eine elektronische Erfassung von Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit vor. Gestaffelte Übergangsfristen je nach Unternehmensgröße sollten den Betrieben Zeit verschaffen. Doch der Entwurf verschwand in der Schublade – nicht einmal ins Parlament hat er es geschafft.

Das Ergebnis? Rechtsunsicherheit für Tausende Unternehmen, die nicht wissen, welche Standards sie erfüllen müssen. Manche investieren bereits in digitale Systeme, andere warten ab. Kann die Ampel-Koalition in dieser Legislaturperiode noch liefern? Die Zeit läuft.

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Europarecht triumphiert über Tarifautonomie

Die Urteile dieser Woche sind mehr als juristische Spitzfindigkeiten – sie markieren einen Machtwechsel im Arbeitsrecht. Der EuGH setzt soziale Standards, auch wenn er bei der konkreten Lohnhöhe Grenzen akzeptiert. Das BAG macht deutlich: Individuelle Schutzrechte schlagen Tarifautonomie, wenn es um Diskriminierung geht.

Für Deutschland heißt das: Der Aktionsplan zur Tarifbindung wird zur Pflichtaufgabe. Gewerkschaften wie der DGB jubeln, Arbeitgeberverbände warnen vor zu viel Regulierung. Wie könnte der Plan aussehen? Erleichterte Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, stärkere Förderung von Betriebsräten, womöglich sogar finanzielle Anreize für tarifgebundene Unternehmen.

Unternehmen müssen jetzt handeln

Wer abwartet, verliert. Arbeitgeber sollten ihre Tarifverträge sofort auf diskriminierende Klauseln durchforsten – das BAG-Urteil öffnet Tür und Tor für Klagen von befristet Beschäftigten. Gleichzeitig ist Pragmatismus gefragt: Moderne Zeiterfassungssysteme sind keine Kür mehr, sondern Pflicht – auch wenn der Gesetzgeber sich Zeit lässt.

Die kommenden Monate werden zeigen, ob die Bundesregierung den Mut findet, klare Regeln zu schaffen. Bis dahin navigieren Unternehmen durch eine Grauzone, während europäisches Recht Stück für Stück das deutsche Arbeitsrecht neu formt.

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