EuGH, Reisezeit

EuGH: Reisezeit im Firmenwagen gilt als Arbeitszeit

24.11.2025 - 18:01:12

Europäischer Gerichtshof entscheidet, dass Fahrten als Mitfahrer in Dienstwagen zur Arbeitszeit zählen. Deutsche Unternehmen müssen Zeiterfassung anpassen, um Verstöße gegen Arbeitszeitgesetz zu vermeiden.

Deutschlands Arbeitgeber und Personalabteilungen müssen umdenken: Der Europäische Gerichtshof hat klargestellt, dass Fahrten als Beifahrer im Firmenwagen zur Arbeitszeit zählen. Das Urteil könnte Tausende Unternehmen treffen – und die deutsche Rechtsprechung unter Druck setzen.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einem wegweisenden Urteil entschieden: Wenn Beschäftigte als Beifahrer in Firmenfahrzeugen vom Sammelpunkt zur Baustelle gebracht werden, ist das Arbeitszeit. Das Urteil im Fall C-110/24 (STAS-IV gegen VAERSA) vom 9. Oktober 2025 sorgt seit dieser Woche für intensive Debatten unter deutschen Arbeitsrechtlern. Denn die Entscheidung könnte die Zeiterfassung in Branchen wie Bau, Reinigung und Außendienst grundlegend verändern.

Am Montag haben Rechtsexperten, darunter die Fachpublikation Legal Tribune Online, die weitreichenden Konsequenzen für deutsche Unternehmen analysiert. Die Botschaft ist klar: Arbeitgeber müssen ihre Zeiterfassungssysteme schnellstens überprüfen.

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Der Fall aus Spanien mit europaweiter Wirkung

Ausgangspunkt war ein Streit in Spanien. Das öffentliche Unternehmen VAERSA beschäftigt Mitarbeiter für die Pflege von Naturschutzgebieten. Diese müssen morgens an einem festen Treffpunkt erscheinen, von wo sie mit Firmenwagen zu wechselnden Einsatzorten gefahren werden. VAERSA rechnete nur die Zeit am eigentlichen Arbeitsort als Arbeitszeit ab – nicht aber die Fahrzeit im Transporter. Kann das rechtens sein?

Der EuGH urteilte eindeutig: Nein. Die Richter in Luxemburg begründeten ihre Entscheidung mit drei zentralen Punkten. Erstens: Während der Fahrt stehen die Beschäftigten dem Arbeitgeber zur Verfügung. Zweitens: Sie können ihre Zeit nicht frei für private Zwecke nutzen. Drittens: Die Fahrt ist notwendiger Bestandteil ihrer Tätigkeit, da sie nur so die wechselnden Einsatzorte erreichen.

Kollision mit deutscher Rechtsprechung

Besonders brisant: Das Urteil steht im Widerspruch zur bisherigen deutschen Praxis. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) unterschied bislang zwischen “aktivem” Fahren – eindeutig Arbeitszeit – und “passivem” Mitfahren. Letzteres wurde oft als Ruhezeit oder zumindest als “weniger belastend” eingestuft, basierend auf der sogenannten Belastungstheorie.

Diese Differenzierung akzeptiert der EuGH nicht. In seiner Analyse betont Arbeitsrechtsexperte Dr. Hans-Peter Löw in der Legal Tribune Online, dass das europäische Recht keine Zwischenkategorie zwischen Arbeitszeit und Ruhezeit kennt. Ist ein Arbeitnehmer nicht frei in der Gestaltung seiner Zeit und steht unter Arbeitgeberkontrolle, muss die Zeit als Arbeitszeit erfasst werden – zumindest im Sinne des Gesundheits- und Arbeitszeitschutzes.

Doch Vorsicht: Hier gibt es eine entscheidende Einschränkung.

Arbeitszeit ist nicht gleich Bezahlzeit

Arbeitgeber sollten zwei Aspekte strikt trennen: den Schutzaspekt der Arbeitszeit und den Vergütungsaspekt. Das EuGH-Urteil regelt ausschließlich den Schutzaspekt, also die Frage, was auf die Höchstarbeitszeit angerechnet wird. Die Bezahlung hingegen bleibt nationale Angelegenheit.

Konkret bedeutet das: Die Fahrzeit als Beifaher muss bei der Berechnung der täglichen Höchstarbeitszeit (in Deutschland zehn Stunden) berücksichtigt werden. Sie darf nicht als Pause gelten. Aber – und das ist die gute Nachricht für Arbeitgeber – das Urteil schreibt nicht vor, dass diese Zeit genauso vergütet werden muss wie “aktive” Arbeitszeit.

Wie bereits in der Rechtssache Tyco (C-266/14) klargestellt, ist die Vergütungsfrage Sache nationaler Gesetze, Tarifverträge oder individueller Arbeitsverträge. Solange der Mindestlohn eingehalten wird, können Unternehmen unterschiedliche Vergütungsmodelle für Reisezeit und Kernarbeit vereinbaren.

Was Personalabteilungen jetzt tun müssen

Die Auswirkungen für deutsche Unternehmen sind erheblich, besonders in Branchen mit mobilen Teams. Drei Handlungsfelder sind entscheidend:

Erstens: Arbeitszeiterfassung überarbeiten. Fahrten von Sammelpunkten zu Einsatzorten müssen dokumentiert werden, um Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz zu vermeiden. Wer diese Zeit nicht erfasst, riskiert Bußgelder und haftet möglicherweise für Sicherheitsverstöße.

Zweitens: Ruhezeitenberechnung anpassen. Die elf Stunden Mindestruhezeit müssen außerhalb der Reisezeit liegen. Die Fahrt im Firmenwagen kann nicht als Pause oder Erholung gewertet werden – egal, wie bequem die Sitze sind.

Drittens: Verträge prüfen. Tarifverträge und Arbeitsverträge sollten daraufhin überprüft werden, ob sie zwischen verschiedenen Tätigkeitsarten unterscheiden. Eine niedrigere Vergütung für Reisezeit kann zulässig sein, muss aber klar geregelt werden.

Paradigmenwechsel im europäischen Arbeitsrecht?

Das Urteil ist Teil eines größeren Trends. Der EuGH legt die Arbeitszeitrichtlinie zunehmend arbeitnehmerfreundlich aus. Die deutsche “Belastungstheorie”, die nach der Intensität der Beanspruchung fragt, verliert auf europäischer Ebene an Bedeutung. Stattdessen zählt allein die Frage: Steht der Arbeitnehmer zur Verfügung oder nicht?

Ende November 2025 raten Branchenverbände ihren Mitgliedsunternehmen dringend zur Überprüfung ihrer Reiserichtlinien. Die Kanzlei Steinberg Arbeitsrecht hat Mitte November entsprechende Handlungsempfehlungen veröffentlicht. Die Botschaft ist eindeutig: Wer jetzt nicht reagiert, läuft Gefahr, gegen das Arbeitszeitgesetz zu verstoßen.

Ob deutsche Gerichte ihre Rechtsprechung anpassen werden, bleibt abzuwarten. Der Druck aus Luxemburg ist jedenfalls spürbar. Und während Juristen diskutieren, sollten Personaler handeln – bevor die erste Betriebsprüfung vor der Tür steht.

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