KI-Regulierung, Wettbewerbsfähigkeit

EU verschiebt KI-Regulierung: Wettbewerbsfähigkeit vor Regeln

23.11.2025 - 22:50:11

Die Europäische Union vollzieht eine dramatische Kehrtwende in ihrer Digitalpolitik. Nach jahrelangem Kurs auf strikte Regulierung setzt Brüssel jetzt auf Wettbewerbsfähigkeit – und verschiebt zentrale Bestimmungen des KI-Gesetzes um ein Jahr. Was bedeutet dieser Kurswechsel für die deutsche Wirtschaft und den Technologiestandort Europa?

Der Wandel kommt nicht aus heiterem Himmel. Bei einem Gipfel zur digitalen Souveränität in Berlin unterzeichneten am Dienstag alle 27 EU-Mitgliedstaaten eine gemeinsame Erklärung. Die Botschaft: Europa darf im Wettrennen mit den USA und China nicht auf der Strecke bleiben. Nur einen Tag später präsentierte die EU-Kommission das sogenannte “Digital-Omnibus”-Paket – ein Bündel von Gesetzesänderungen, das die europäische Digitalregulierung grundlegend umkrempeln soll.

Die treibenden Kräfte hinter diesem Schwenk: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Deutschlands Bundeskanzler Friedrich Merz. Gemeinsam schmieden sie eine neue deutsch-französische Achse, die Europa aus der “systemischen Rivalität” zwischen Washington und Peking herausführen soll.

Herzstück der Reform ist die Verschiebung der schärfsten KI-Vorschriften. Unternehmen erhalten faktisch zwölf Monate mehr Zeit, um die Anforderungen für Hochrisiko-KI-Systeme zu erfüllen. Die Begründung: Erst müssen standardisierte Werkzeuge zur Unterstützung der Compliance verfügbar sein.

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“Die tektonischen Verschiebungen weltweit erfordern schnelles Handeln”, erklärte Kanzler Merz beim Berliner Gipfel. “Europa darf dieses Feld nicht den USA und China überlassen. Aber Souveränität lässt sich nicht allein durch Regulierung erreichen – sie braucht ein Umfeld, in dem Innovation atmen kann.”

Zahlen belegen den Reformdruck: Bis 2029 soll das Digital-Omnibus-Paket die Bürokratiekosten um jährlich bis zu fünf Milliarden Euro senken. Für den Mittelstand könnte das den entscheidenden Unterschied machen.

DSGVO wird entschlackt – endlich?

Auch die in der Wirtschaft oft gefürchtete Datenschutz-Grundverordnung steht auf dem Prüfstand. Die Kommission plant eine “gezielte Vereinfachung” – ein Begriff, der bei deutschen Unternehmern für Hoffnung sorgt.

Die konkreten Änderungen im Entwurf:

Automatisierte Entscheidungen: Mehr Spielraum für KI-gestützte Prozesse, solange menschliche Kontrolle zum gleichen Ergebnis führen würde. Rechtssicherheit für Unternehmen, die auf maschinelles Lernen setzen.

Cybersicherheits-Meldungen: Ein zentrales Portal über die EU-Agentur für Cybersicherheit ENISA ersetzt das bisherige Flickwerk nationaler Meldestellen. Endlich nur noch eine Anlaufstelle statt 27.

Digitale Unternehmensausweise: Ein neues System digitaler Identitäten für Firmen soll grenzüberschreitende Geschäfte vereinfachen. Einsparpotenzial laut Kommission: 150 Milliarden Euro jährlich.

12 Milliarden Euro: Wirtschaft investiert in Europa

Politische Erklärungen sind das eine – handfeste Zusagen das andere. Beim Berliner Gipfel verpflichteten sich europäische Unternehmen zu Investitionen von über zwölf Milliarden Euro in digitale Infrastruktur. Eine beachtliche Summe, die zeigt: Die Wirtschaft nimmt den Kurswechsel ernst.

Zur Steuerung des neuen Kurses gründeten Deutschland und Frankreich eine gemeinsame Task Force für digitale Souveränität. Bis 2026 soll sie konkrete Messkriterien für Cloud-Dienste, KI und Cybersicherheit definieren. Werden deutsche Unternehmen künftig Bonuspunkte bekommen, wenn sie europäische Cloud-Anbieter nutzen?

“Europa will nicht der Kunde der großen Lösungen aus den USA oder China sein”, formulierte Präsident Macron das Ziel. Die Wortwahl ist eindeutig: Europa soll kein “Vasall” werden.

Zwischen Souveränität und Isolation

Doch nicht alle EU-Staaten teilen diese harte Linie. Italien und Irland unterzeichneten zwar die Berliner Erklärung, betonten aber: Souveränität darf nicht in Abschottung münden.

“Wir müssen digitale Souveränität auf offene Weise verfolgen”, mahnte Irlands Staatsministerin für Digitalisierung, Niamh Smyth. “Ein kollaborativer Ansatz macht die EU langfristig stärker und schafft Chancen für europäische Unternehmen, zukünftige Technologien zu exportieren.”

Ein Spagat, der die Zerrissenheit Europas offenbart: Souveränität ja, aber ohne sich vom Weltmarkt abzukoppeln.

Vodafone jubelt, Kritiker warnen vor Protektionismus

Die Reaktionen aus der Wirtschaft fielen überwiegend positiv aus. Vodafone begrüßte in einer Analyse den Schwenk zur “pragmatischen Souveränität”. Der Telekommunikationsriese argumentierte, dass Europas Streben nach Kontrolle zwar legitim sei, “stumpfe Restriktionen” aber die globale Wettbewerbsfähigkeit untergraben würden.

Ganz anders tönt es vom Center for Data Innovation. Das amerikanische Think-Tank brandmarkte die Berliner Erklärung als “reinen Protektionismus”. Der Druck auf US-Technologiekonzerne und staatliche Unterstützung für europäische Champions könnte zur “Selbstsabotage” werden, warnte die Organisation. Abschottung vom Wettbewerb mache europäische Firmen langfristig schwächer.

Auch innerhalb der EU-Institutionen rumort es. Am Freitag wurden Spannungen zwischen EU-Parlament und Kommission öffentlich. Einige Abgeordnete sehen in der aggressiven Überarbeitung erst kürzlich beschlossener Gesetze einen Angriff auf die “Integrität des Gesetzgebungsverfahrens”. Der Genehmigungsprozess dürfte holprig werden.

Cloud-Giganten im Visier

Parallel zur Regulierungsreform verschärft Brüssel die Kontrolle über ausländische Infrastruktur. Die Berliner Erklärung kündigte eine Marktuntersuchung zur “qualitativen Einstufung von Cloud-Hyperscalern” an. Ein deutliches Signal: Amazon Web Services, Microsoft Azure und Google Cloud bleiben im Fadenkreuz.

Europa baut derweil eigene Alternativen auf. Das Digital Commons European Digital Infrastructure Consortium (DC-EDIC) mit Sitz in Paris startet im Dezember offiziell. Gründungsmitglieder sind Frankreich, Deutschland, Italien und die Niederlande. Ziel: offene, interoperable digitale Infrastruktur als Alternative zu proprietären Plattformen außerhalb der EU.

Kann SAP gemeinsam mit französischen und italienischen Partnern tatsächlich eine Alternative zu AWS aufbauen? Die Skepsis ist groß, der politische Wille aber auch.

Vom Schiedsrichter zum Spieler?

“Die Fragen der Zukunft werden im digitalen Raum entschieden”, warnte Kanzler Merz. Mit dem Digital-Omnibus-Paket steht Europa am Scheideweg. Jahrelang galt die EU als globaler “digitaler Schiedsrichter”, der mit DSGVO und Digital Markets Act die Regeln für andere setzte.

Jetzt der Versuch, selbst mitzuspielen. Doch kann das funktionieren? Die nächsten Monate werden zeigen, ob Europa den Spagat schafft zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Souveränität, zwischen Offenheit und Selbstbehauptung.

Der Vorschlag geht nun an Europäisches Parlament und Rat. Dort dürfte der Konflikt zwischen “Souveränitäts-Hardlinern” und der “Offener-Markt”-Fraktion die Agenda bis weit ins Jahr 2026 dominieren. Deutschlands Industrie schaut gespannt nach Brüssel – und hofft, dass aus den Ankündigungen diesmal mehr wird als heiße Luft.

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