BAG-Urteil: Diskriminierung im Tarifvertrag sofort ungültig
24.11.2025 - 17:00:12Das Bundesarbeitsgericht stärkt Arbeitnehmerrechte massiv: Bei EU-rechtswidriger Diskriminierung in Tarifverträgen können Beschäftigte sofortige Gleichstellung verlangen. Die Tarifparteien verlieren ihr bisheriges Vorrecht zur Selbstkorrektur – ein Paukenschlag für die deutsche Arbeitsrechtspraxis.
Am 13. November 2025 fällte der Sechste Senat des BAG ein wegweisendes Urteil (Az. 6 AZR 131/25), das die Machtbalance zwischen Tarifparteien und Einzelarbeitnehmern neu justiert. Die Kernbotschaft: Verstößt eine Tarifklausel gegen EU-geprägtes Antidiskriminierungsrecht, ist sie unmittelbar teilnichtig. Benachteiligte Mitarbeiter können dann direkt die Gleichbehandlung mit bessergestellten Kollegen einklagen – ohne dass Gewerkschaften und Arbeitgeber zunächst Zeit zur Korrektur bekommen.
Was bedeutet das konkret für die Praxis? Die Tarifparteien tragen nun das volle Risiko fehlerhafter Vereinbarungen von Beginn an. Eine Schonfrist zur nachträglichen Korrektur gibt es nicht mehr, wenn EU-Recht betroffen ist.
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Den Stein ins Rollen brachte ein Lieferfahrer eines bundesweiten Logistikunternehmens. Seine Geschichte klingt alltäglich, hat aber grundsätzliche Bedeutung: Im Juni 2019 begann er zunächst befristet, ein Jahr später erhielt er einen unbefristeten Vertrag. Dazwischen änderten Unternehmen und Gewerkschaft den Haustarifvertrag – mit weitreichenden Folgen für Neueinstellungen.
Die neue Regelung ab Juli 2019 verlängerte die Wartezeiten für Gehaltssteigerungen innerhalb der Lohnstufen. Das Problem: Die Arbeitgeberseite wertete auch den unbefristeten Vertrag des Fahrers als “neu begründetes Arbeitsverhältnis” und stellte ihn schlechter als langjährig unbefristete Kollegen. Der Fahrer wehrte sich – und bekam in allen Instanzen Recht.
Die Vorinstanzen erkannten bereits eine unzulässige Benachteiligung gegenüber Dauerbeschäftigten. Nun bestätigte das höchste deutsche Arbeitsgericht diese Einschätzung und zog daraus weitreichende Schlüsse für die Tarifautonomie.
Die rechtliche Zäsur: EU-Recht schlägt Tarifautonomie
Das BAG stellte fest, dass die Tarifklausel gegen Paragraf 4 Absatz 2 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) verstößt. Diese Norm verbietet die Ungleichbehandlung befristet Beschäftigter ohne sachlichen Grund – und setzt eine EU-Richtlinie um. Genau hier liegt der entscheidende Unterschied.
Die Richter betonten die Abschreckungsfunktion des EU-geprägten Diskriminierungsschutzes. Deshalb müssen Gerichte jede Ungleichbehandlung vollständig auf ihre Rechtfertigung überprüfen – eine bloße Willkürkontrolle reicht nicht aus. Die vom Arbeitgeber vorgebrachten Gründe hielten dieser strengen Prüfung nicht stand.
Die Konsequenz ist eindeutig: Der benachteiligte Arbeitnehmer erhält sofort Anspruch auf Gleichstellung mit den begünstigten Kollegen. Die Tarifparteien können nicht verlangen, dass sie die diskriminierende Regelung erst selbst korrigieren dürfen, bevor individuelle Ansprüche entstehen.
Der entscheidende Unterschied: Grundgesetz versus Europarecht
Könnte man nicht bei jeder diskriminierenden Tarifnorm so verfahren? Nein – und genau hier zeigt sich die Brisanz des Urteils. Bei Verstößen gegen die allgemeine Gleichheitsregel des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 1 GG) hatte das Bundesverfassungsgericht den Tarifparteien bisher ein Vorrecht zur Selbstkorrektur zugestanden. Die Tarifautonomie (Artikel 9 Absatz 3 GG) gab ihnen Vorrang.
Das BAG zieht nun eine klare Trennlinie: Dieses Prinzip gilt nicht bei EU-geprägtem Antidiskriminierungsrecht. Die Begründung leuchtet ein: Die Abschreckungswirkung des EU-Rechts würde unterlaufen, wenn Tarifparteien diskriminierende Regeln schaffen könnten, wohl wissend, dass sie später noch Gelegenheit zur Nachbesserung bekommen.
Diese Unterscheidung demonstriert den Vorrang des Unionsrechts bei spezifischen Diskriminierungsformen. Die Autonomie der Sozialpartner findet hier ihre Grenzen – ein Paradigmenwechsel für die deutsche Arbeitsrechtspraxis.
Wirtschaftliche Dimension: Unkalkulierbare Nachzahlungsrisiken
Arbeitsrechtler sprechen von einem „Weckruf” für tarifgebundene Unternehmen. Wird eine Tarifklausel als diskriminierend nach EU-Recht eingestuft, ist sie von Anfang an unwirksam. Arbeitgeber müssen dann mit sofortigen Nachzahlungsforderungen aller betroffenen Beschäftigten rechnen – ein erhebliches finanzielles Risiko.
Die Entscheidung verschiebt das Haftungsrisiko vollständig auf die Tarifparteien. Sie haben keine Schonfrist mehr zur Fehlerkorrektur. Das erhöht den Druck massiv, bereits vor Vertragsabschluss alle Klauseln akribisch auf mögliche Diskriminierung zu prüfen.
Für Arbeitnehmer bedeutet das Urteil hingegen stärkeren und unmittelbaren Schutz. Sie können ihre Gleichbehandlungsrechte ohne Verzögerung durchsetzen und müssen nicht erst abwarten, bis Gewerkschaft und Arbeitgeber sich auf eine Korrektur einigen.
Was jetzt zu tun ist: Tarifverträge auf dem Prüfstand
Nach diesem Urteil sollten Arbeitgeber und Gewerkschaften ihre bestehenden Tarifverträge proaktiv überprüfen. Besonders Klauseln, die Teilzeit- oder befristet Beschäftigte betreffen, stehen unter Verdacht. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Rechtsgrundlagen für Diskriminierung – deutsches Grundgesetz versus EU-Recht – wird zum kritischen Faktor der Risikoeinschätzung.
Das Urteil dürfte mehr Arbeitnehmer ermutigen, potenziell unfaire Lohnstrukturen und andere Vertragsbedingungen anzufechten. Unternehmen müssen mit steigender Prozessflut rechnen, während Beschäftigte und ihre Rechtsvertreter die Grenzen dieser neuen, strengeren Rechtsauslegung ausloten.
Letztlich erzwingt die BAG-Entscheidung einen sorgfältigeren Umgang beim Aushandeln von Tarifverträgen. Die vom europäischen Recht vorgeschriebenen Grundsätze der Nichtdiskriminierung sind damit nicht mehr bloß theoretisches Ideal, sondern durchsetzbare Realität am deutschen Arbeitsplatz. Für die Praxis bedeutet das: Tarifverträge müssen künftig schon bei der Formulierung wasserdicht sein – Nachbesserungen auf Kosten benachteiligter Beschäftigter sind nicht mehr möglich.
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