Der Großangriff auf Israel soll Konsequenzen habe.
10.10.2023 - 00:29:42Palästinenser müssen um Hilfe aus EU bangen. Hilfsprojekte für Palästinenser werden überprüft, Zahlungen ausgesetzt. Doch die ganz große Einigkeit gibt es bei dem Thema offensichtlich nicht.
Deutschland und die EU drohen in Reaktion auf den Großangriff der islamistischen Hamas gegen Israel mit einem langfristigen Zahlungsstopp für Hilfsprojekte zugunsten der Palästinenser. Die EU-Kommission kündigte gestern an, ihre Programme für die palästinensische Bevölkerung und die Autonomiebehörde zu überprüfen. Das deutsche Entwicklungsministerium setzte Finanzhilfen vorübergehend aus.
Entwicklungsministerin Svenja Schulze sagte in Berlin: «Wir wollen das mit Israel besprechen, wie unsere Entwicklungsprojekte dem Frieden in der Region und der Sicherheit Israels am besten dienen können.» Dies sei «ein Ausdruck unserer unverbrüchlichen Solidarität mit Israel».
EU-Kommission relativiert Aussage
Von der EU-Kommission hieß es am Abend, da momentan keine Zahlungen vorgesehen seien, werde es vorerst nicht zu einer Zahlungsaussetzung kommen. Zuvor hatte am Nachmittag der zuständige EU-Kommissar Oliver Varhelyi über den Kurznachrichtendienst X mitgeteilt, alle Zahlungen würden sofort ausgesetzt.
Am Abend hieß es nun aus Kommissionskreisen, es sei tatsächlich vereinbart worden, keine Gelder auszuzahlen, bis die Überprüfung der Hilfen abgeschlossen sei. Es sei aber auch richtig, dass derzeit keine Zahlungen anstünden. Varhelyi habe die Entscheidung eigenmächtig kommuniziert. Ursprünglich sei vorgesehen gewesen, zunächst die Mitgliedstaaten zu informieren, damit das Thema dann auch bei dem für heute geplanten Sondertreffen der Außenminister mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell besprochen werden könne.
Michel: Zivilisten weiter unterstützen
Die Meinungen zu dem Thema gehen in der EU weit auseinander. So erklärte EU-Ratspräsident Charles Michel am späten Abend nach einem Telefonat mit UN-Generalsekretär António Guterres: «Wir dürfen die dringend benötigte Entwicklungshilfe und humanitäre Hilfe für die palästinensischen Zivilisten nicht stoppen. Dies könnte von der Hamas ausgenutzt werden und Spannungen und Hass verschärfen.»
Ähnlich äußerte sich der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Er schrieb: «Die Aussetzung der Zahlungen - eine Bestrafung des gesamten palästinensischen Volkes - hätte den EU-Interessen in der Region geschadet und die Terroristen nur noch mehr ermutigt.» Aus seiner Sicht macht die neue Mitteilung der Kommission klar, dass wegen der Überprüfung keine fälligen Zahlungen ausgesetzt werden.
Auch Außenministerin Annalena Baerbock hält an humanitärer Hilfe fest. «Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe sind zwei verschiedene Dinge», sagte die Grünen-Politikerin in der n-tv-Talkshow «Beisenherz». Sie ergänzte: «Ich halte es für fatal, jetzt einfach zu sagen, man sollte zum Beispiel keine Lebensmittelhilfen mehr leisten.» Dort seien 2,1 Millionen Menschen auf Lebensmittelhilfen über die Vereinten Nationen angewiesen.
Streit um Geld für NGOs
Kritik gab es in der Vergangenheit immer wieder aus Israel. Dabei ging es um die Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen in den Palästinensergebieten oder auch um Streit wegen palästinensischer Schulbücher und Geld für diese. Es gab den Vorwurf, dass dort antijüdische Vorurteile und Gewaltverherrlichung verbreitet würden.
Schon heute sei sehr klar, dass die EU weder direkt noch indirekt die Aktivitäten der Hamas oder anderer Terrororganisationen finanziere, sagte eine Sprecherin der EU-Kommission in Brüssel aber. Die EU habe sehr strenge Regeln zur Überprüfung der Empfänger. Alle müssten versichern, dass diese weder direkt noch indirekt an Unternehmen, Organisationen oder Personen mit Verbindung zur Hamas gingen.
Rabbinerkonferenz: «Jegliche finanzielle Unterstützung beenden»
Die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) forderte gestern, die Terrorattacken der Hamas sollten eine Zäsur für jene Regierungen, Organisation, Initiativen, religiöse Gemeinden sowie Einzelpersonen sein, «die die vermeintlich friedliche palästinensische Sache finanziell oder ideologisch unterstützen, mit ihr sympathisieren oder ihre gewaltsamen Taten relativieren».
Sie sollten dringend reflektieren, ob sie auf der richtigen Seite der Geschichte stehen oder weiter von palästinensischen und islamistischen Terrororganisationen missbraucht werden wollten. «Deutschland und die EU sollten den Anfang machen, jegliche finanzielle Unterstützung für Gaza und die palästinensische Autonomiebehörde sofort zu beenden», forderte die Rabbinerkonferenz.
Nach Angaben von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aus dem vergangenen Jahr sind die EU und ihre Mitgliedstaaten mit einem Beitrag von rund 600 Millionen Euro pro Jahr der größte Geldgeber der Palästinenser. Allein aus dem EU-Haushalt waren für den Zeitraum 2021 bis 2024 Finanzhilfen in Höhe von 1,18 Milliarden Euro vorgesehen.
125 Millionen Euro zugesagt
Das deutsche Entwicklungsministerium (BMZ) hat nach eigenen Angaben für dieses und nächstes Jahr rund 125 Millionen Euro an bilateraler Entwicklungszusammenarbeit zugesagt. Dabei geht es um längerfristige Programme. Eine Sprecherin nannte Wasserversorgung und -entsorgung, eine Entsalzungsanlage, berufliche Bildung, die Schaffung von Arbeitsplätzen für junge Leute und Ernährungssicherung als Beispiele.
«Sämtliche Vorhaben mit den palästinensischen Gebieten sind immer schon sehr, sehr gründlich überprüft worden», sagte die BMZ-Sprecherin. «Wahrscheinlich ist es das am besten überprüfte Portfolio des gesamten BMZ.» Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte, bei den deutschen Projekte werde «in jedem Fall die außenpolitische Unbedenklichkeit von Projektpartnern» geprüft. Er sagte: «Dabei wird selbstverständlich auch genau untersucht, ob es mögliche Terrorismus-Bezüge gibt.»
Finanzierungsstopps, die auch Auswirkungen auf die humanitäre Hilfe haben können, sind stets eine Gratwanderung. Vor allem in dem von der Hamas kontrollierten und dicht besiedelten Gazastreifen mit seinen mehr als zwei Millionen Menschen sind viele Zivilisten abhängig von internationalen Hilfslieferungen. Geld bekommt auch die Palästinensische Autonomiebehörde, die in Gegnerschaft zu der von der EU, den USA und Israel als Terrororganisation eingestuften Hamas steht. Sie bezahlt damit zum Beispiel Mitarbeiter und Sozialhilfeleistungen an bedürftige Familien.