Bislang trifft Russlands Angriffskrieg vor allem die Ukraine mit Toten und Verwüstungen in allen Landesteilen.
31.12.2023 - 16:32:40Russland zählt mehr als 20 tote Zivilisten in Belgorod. Nun gibt es Tote in einer russischen Stadt. Moskau reagiert sofort mit Vergeltung.
Russland hat in seinem fast zwei Jahre dauernden Angriffskrieg gegen die Ukraine zum Jahreswechsel erstmals eine hohe Zahl an zivilen Todesopfern zu beklagen. In der grenznahen Stadt Belgorod wurden nach ukrainischen Angriffen 24 Tote und mehr als 100 Verletzte gezählt, wie Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow mitteilte. Das russische Militär behauptete, die Ukraine habe dabei auch die international geächtete Streumunition eingesetzt.
Ausdrücklich als Vergeltung für Belgorod beschoss die russische Armee am Samstagabend die nahe gelegene ostukrainische Großstadt Charkiw, wo es nach Behördenangaben 28 Verletzte gab. Eine Rakete schlug in einem großen internationalen Hotel ein. Davon war auch ein Team des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) betroffen. Eine ukrainische Übersetzerin sei durch Trümmerteile schwer verletzt worden, teilte der Sender mit. Außerdem sei ein Sicherheitsmann verletzt worden.
Russland startete auch am Silvestertag Drohnen und Raketen gegen die Ukraine. Bei den Städten Kropywnizkyj und Kriwyj Rih in der Mitte des Landes waren mittags Medienberichten zufolge Explosionen zu hören.
Belgorod zählt seine Toten
«Ohne Zweifel hat unser Gebiet noch nie ein solches Ausmaß an Aggression erlebt», schrieb Gouverneur Gladkow im sozialen Netzwerk Telegram. «Das waren die schlimmsten Folgen durch Beschuss in diesen fast zwei Jahren.» Nach offiziellen russischen Angaben wurden durch die Angriffe am Freitag und Samstag 44 Gebäude in Belgorod getroffen. Auch am Sonntag gab es erneut Raketenalarm. Bürger beklagten, dass nicht überall Schutzräume geöffnet gewesen sein. Der Gouverneur bat darum, ihm solche Fälle mitzuteilen.
Die etwa 30 Kilometer von der Ukraine entfernte Stadt ist seit Kriegsbeginn im Februar 2022 mehrfach unter Beschuss geraten, der militärischen Depots oder Treibstofftanks galt. So viele zivile Todesopfer in einer russischen Stadt gab es aber bislang nicht. Trotzdem stehen Schäden und Opferzahlen in keinem Verhältnis zu dem, was Russland in der Ukraine anrichtet. Allein nach dem schweren Bombardement mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen vom Freitag stieg die Zahl getöteter ukrainischer Zivilisten bis Sonntag auf 45.
Putin betont Durchhaltefähigkeit Russlands
Der russische Präsident Wladimir Putin, der den Krieg befohlen hat, äußerte sich nicht zur Lage in Belgorod. Er entsandte Helfer des Katastrophenschutzes und einen ranghohen Beamten in die Stadt. Auch in seiner vorab aufgezeichneten Ansprache zum Jahreswechsel kam das Geschehen nicht vor. Stattdessen beschwor er Durchhaltefähigkeit und Einheit der Russen in schwieriger Lage. «Wir haben mehr als einmal gezeigt, dass wir die schwierigsten Aufgaben lösen können und niemals zurückstecken, denn es gibt keine Kraft, die uns entzweien könnte», sagte der Kremlchef. Wegen der Toten in Belgorod sagten viele andere russische Städte kurzfristig ihre Silvesterfeiern ab.
Hat die Ukraine Streumunition eingesetzt?
Nach russischen Militärangaben soll die Ukraine die Stadt mit Kampfdrohnen und Raketenartillerie beschossen haben. In Moskau teilte das Verteidigungsministerium mit, zwei präzisionsgesteuerte ukrainische Raketen seien mit Streumunition gespickt gewesen. Diese Raketen seien zwar durch die Flugabwehr abgeschossen worden, ihre Trümmer mit der Streumunition seien aber in das Stadtzentrum gefallen, teilte das Militär mit. Die Angaben sind zurzeit nicht unabhängig überprüfbar. Streumunition sind kleinere Sprengsätze, die von einem größeren Geschoss freigesetzt werden und vor allem Fahrzeuge und Menschen treffen sollen.
Im UN-Sicherheitsrat stellte der russische Botschafter Wassili Nebensja es so dar, als sei das Zentrum von Belgorod absichtlich beschossen worden. «Um die Zahl der Opfer zu erhöhen, wurde Streumunition eingesetzt», sagte Nebensja in New York. Streumunition ist in vielen Ländern geächtet. Russland und die Ukraine haben diese Munitionsart aber bereits gegeneinander eingesetzt.
Aus Kiew gab es bis Sonntag keine offizielle Stellungnahme. Das Nachrichtenportal «Ukrajinska Prawda» schrieb unter Berufung auf eine Geheimdienstquelle, dass die ukrainische Armee auf militärische Objekte der Russen gezielt habe. Zivilisten seien aufgrund «unprofessioneller Aktionen der russischen Luftverteidigung sowie bewusster und geplanter Provokationen» zu Schaden gekommen.
ZDF-Team bei Raketentreffer auf Hotel in Charkiw getroffen
Nach den Angriffen auf die ukrainische Stadt Charkiw berichtete das ZDF, sein siebenköpfiges Fernsehteam sei am Samstag in dem Hotel gewesen, als eine Rakete eingeschlagen sei. «Dies ist ein weiterer Angriff Russlands auf die freie Presse. Wir hoffen, dass die verletzten Kollegen schnell genesen», sagte ZDF-Chefredakteurin Bettina Schausten. Das Hotel wird oft von ausländischen Journalisten genutzt, weil es über einen Bunker verfügt. Auch ein britischer Journalist soll verletzt worden sein. Die russische Armee hat schon mehrfach Hotels beschossen, in denen Journalisten oder freiwillige Helfer unterkommen, darunter in Saporischschja und Dnipro.
Das Verteidigungsministerium in Moskau bestätigte den Angriff. Das Hotel sei beschossen worden, weil Vertreter der ukrainischen Geheimdienste dort den Beschuss von Belgorod geplant hätten, gab ein Militärsprecher am Sonntag vor. Russland setzte die Angriffe auf die Ukraine auch am Silvestertag mit Raketen und mehreren Wellen von Drohnen fort. Die ukrainische Luftwaffe teilte mit, von 49 angreifenden Drohnen über der Ukraine in der Nacht seien 21 abgeschossen worden.
DJV verurteilt Charkiw-Überfall
Der Deutsche Journalisten-Verband verurteilt das russische Bombardement eines Hotels in der ukrainischen Stadt Charkiw als Angriff auf den Journalismus. Der DJV-Vorsitzende Mika Beuster nannte die Begründung des russischen Verteidigungsministeriums für den Angriff auf das Hotel «menschenverachtend und zynisch». Journalisten seien kein Nachrichtendienst und auch keine Kriegspartei, sondern unabhängige Beobachter des Geschehens. Kriegsberichterstatter stünden unter dem Schutz der Genfer Konvention. «Das gilt auch für den Ukraine-Krieg.»