Berlin - Ressourcen schonen, wo immer es geht: Die Bundesregierung arbeitet derzeit eine nationale Kreislaufstrategie aus, die noch in diesem Jahr verabschiedet werden soll.
24.01.2024 - 09:04:10Mehr Tempo beim Umbau der Wirtschaft: Bundeskanzler Olaf Scholz lädt zum Spitzengespräch Kreislaufwirtschaft. Deren Ziel ist, die deutsche Wirtschaft Schritt für Schritt unabhängiger von Rohstoffimporten zu machen. Gleichzeitig soll sie einen Beitrag zu Ressourcenschonung und Klimaschutz leisten. Wie Bausektor und produzierende Industrie die Kehrtwende zu einem kreislauffähigen System schaffen, thematisierte auch das gestrige Spitzengespräch der Allianz für Transformation. In diesem Leitdialog der Bundesregierung arbeiten Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft und Zivilgesellschaft daran, Deutschland klimaneutral, digitaler und resilienter zu machen. Am gestrigen Gespräch nahmen neben Bundeskanzler Olaf Scholz und Vize-Kanzler Robert Habeck auch Bundesministerin Steffi Lemke, Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt und Staatsministerin Sarah Ryglewski teil. Zu den Impulsgebern gehörte Cradle to Cradle-Experte Dr. Peter Mösle, Geschäftsführer des Umweltberatungsinstituts EPEA und Partner des auf Bau und Immobilien spezialisierten Beratungsunternehmens Drees & Sommer SE.
Bundeskanzler Olaf Scholz betonte das enorme Potenzial der Circular Economy: "Die Kreislaufwirtschaft bietet die Chance, weniger vom Import wichtiger Rohstoffe abhängig zu werden, indem wir mehr wiederverwerten. Laut Studien ließen sich mit einer Kreislaufwirtschaft bis 2030 jährlich rund 12 Milliarden Euro zusätzliche Bruttowertschöpfung erzielen und neue Arbeitsplätze schaffen. Unser Ziel ist es, globaler Vorreiter für zirkuläre Technologien und Produkte zu werden, zum Beispiel im Bereich Batterien oder auf dem Bau", so Scholz. Vor allem die Baubranche spielt eine entscheidende Rolle beim Klima- und Ressourcenschutz. Rund 40 Prozent des weltweiten Treibhausgases geht auf ihr Konto, außerdem ist sie für mehr als die Hälfte des globalen Rohstoff- und Abfallaufkommens verantwortlich. Laut Drees & Sommer-Vorstand Steffen Szeidl steckt die Baubranche in einem ökologischen Schneeballsystem fest: "Aktuell benutzen wir die Ressourcen der Zukunft, um für die Gegenwart zu bezahlen. Angesichts der Klimakrise und der Abhängigkeit von ausländischen Rohstoffimporten können wir uns den stiefmütterlichen Umgang mit endlichen Rohstoffen aber nicht länger leisten. Revitalisierung anstatt Abriss, Verwertung statt Abfallbeseitigung und kreislauffähiges Design - darauf müssen wir setzen, wenn wir uns die Zukunft nicht verbauen wollen."
Szeidl plädiert für eine konsequente Kreislaufwirtschaft nach dem Cradle to Cradle Prinzip. Demnach sollen sämtliche Materialien und Konstruktionen so gestaltet werden, dass sie entweder vollständig biologisch abbaubar sind oder - wie meist in der Baubranche - in gleichbleibender Qualität in technischen Kreisläufe zirkulieren. Dafür müssen die Bauteile frei von Schadstoffen und sortenrein trennbar sein - und das Gebäudedesign sollte sich auch danach ausrichten.
Solche kreislauffähigen Gebäude- und Bauprodukte für die Immobilienwirtschaft und Industrie mit zu entwickeln, ist Schwerpunkt des Umweltberatungsinstituts EPEA, das seit fünf Jahren Teil der Drees & Sommer-Gruppe ist. Die interdisziplinären Teams, bestehend aus Umweltwissenschaftler:innen, Chemiker:innen, Architekt:innen, Bauingenieur:innen und Materialspezialist:innen, beraten Unternehmen und öffentliche Hand beim Umbau von der linearen zur zirkulären Wirtschaft. Zu den Auftraggebern gehören neben Industrieunternehmen wie Würth oder Schüco auch Städte wie Heidelberg, die Europas erste kreislauffähige Kommune werden will oder die GWG Städtische Wohnungsgesellschaft München, die mittels einer Stoffstromanalyse herausfinden will, welche Materialien sie aus ihrem Bestand in neuen Bauvorhaben einsetzen könnte.
Gebäudebestand als Schatzkammer
Solche Bestandsanalysen bergen großes Potenzial: "Allein die Rohstoffsubstanz der Gebäude summiert sich in Deutschland auf etwa 16 Milliarden Tonnen, das sind über 190 Tonnen pro Person. Eine wahre Schatzkammer an Ressourcen also. Trotzdem landen bei Umbau- oder Abrissarbeiten die Materialien meist in der Müllverbrennung oder auf der Deponie, obwohl sie für neue Bauvorhaben dringend benötigt werden", weiß Dr. Peter Mösle.
Im Bestand kommt dabei der von EPEA entwickelte Urban Mining Screener in Verbindung mit dem digitalen Materialkataster "Madaster" zum Einsatz. Dabei handelt es sich um eine Softwarelösung, die anhand von Gebäudedaten wie beispielsweise Bauort, Baujahr, Gebäudevolumen oder Gebäudetyp deren materielle Zusammensetzung und einzusparende CO2-Emissionen auf Knopfdruck schätzen kann. All diese Bestandsdaten werden anschließend auf Madaster in ein digitales Kataster überführt - eine Art Bauteilkatalog. Das hilft bei der Planung von Rücknahmesystemen der Hersteller, dezentralen Materiallagern und letztendlich auch bei der Konzeption von neuen Bauvorhaben. "Damit es mit der nahtlosen Weiterverwertung klappt, brauchen wir Transparenz. Wir müssen zunächst erfassen, was in unseren Häusern überhaupt drinsteckt und was wir im Hochbau unbedenklich und intelligent weiterverwenden können, um CO2-Emissionen und Primärmaterial einzusparen", sagt Mösle. Er fordert deswegen digitale Materialausweise für Gebäude, wie ihn auch der Koalitionsvertrag von 2021 vorsieht.
Digitaler Materialausweis revolutioniert die Bau- und Immobilienwirtschaft
Über 100 solcher Ressourcenpässe für Gebäude hat EPEA in den vergangen acht Jahren bereits erstellt. Sie dokumentieren genau, welche Materialtypen und - mengen verbaut werden, wie groß deren ökologischer Fußabdruck ist und wie viel Material aus erneuerbaren Ressourcen wie Holz oder aus Recycling stammt - und das für alle eingesetzten Produkte im Gebäude. Hohe Punktzahlen gibt es beispielsweise für gesunde und demontierbare Materialien, Abzüge bei Produkten, die untrennbar miteinander verschmolzen sind. Als Beispiel nennt Mösle herkömmliche Wärmedämmverbundsysteme: "Hier sind oft bis zu 20 verschiedene Stoffe auf untrennbare Weise miteinander verbunden, die bei Sanierung oder Abriss nichts als Sondermüll hinterlassen. Dabei gibt es kreislauffähig zertifizierte Systeme, die wir am Ende ihrer Nutzungszeit wieder in neuen Gebäuden einsetzen können."
Digitale Materialpässe werden die Baubranche nach Mösles Einschätzung ebenso revolutionieren wie der Energieausweis vor 20 Jahren. "Aus unserer Erfahrung bestehen heutige Bestands- und Neubauten nicht einmal zu 10 Prozent aus erneuerbaren oder recycelten Materialien. Wenn wir mit Hilfe der Ressourcenpässe planen, erreichen wir recht einfach eine Quote von über 30 Prozent", erklärt Mösle. Diese Verbesserung ließe sich etwa durch die Verwendung von Cradle to Cradle Produkten, CO2-armem Zement oder durch Holzhybridkonstruktionen erreichen. Davon profitieren Bauherren auch wirtschaftlich, wie Berechnungen zeigen: "Über den gesamten Lebenszyklus betrachtet sind Wertsteigerung von bis zu zehn Prozent möglich. Denn das für die Baustoffe gebundene Kapital geht nicht länger verloren, sondern wird ähnlich einer mittel- bis langfristigen Wertanlage bei der Umnutzung oder im Rückbau wieder freigegeben. Unsere gebaute Umwelt wandelt sich damit vom Abfallgrab zu einem Rohstoffdepot", so Peter Mösle.
Zirkuläres Bauen braucht messbare Ziele
ESG, GEG, Green Deal: Die regulatorischen Anforderungen und das steigende Umweltbewusstsein in der Bevölkerung setzen die Branche zunehmend unter Druck. Steffen Szeidl rät Investoren und Bestandshaltern daher, sich frühzeitig mit dem Optimierungspotenzial ihrer Gebäude auseinanderzusetzen. "Wer sich nicht selbst bewegt und mit guten Beispiel vorangeht, der wird bewegt - durch Regulierung oder durch gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Druck. Klimagerecht und kreislauffähig zu bauen ist keine Kür, sondern Pflicht." Um die Ressourcenwende weiter anzukurbeln, fordern Szeidl und Mösle die Einführung des digitalen Ressourcenpasses mit entsprechenden Mindestquoten: Bis zum Jahr 2030 sollen mindestens 40 Prozent aller Materialien für Bauvorhaben aus nachwachsenden Rohstoffen oder Sekundärmaterialien kommen - egal ob bei Neubau oder Sanierung. Im Bestand lasse sich diese Quote in der Regel bereits durch den Erhalt des Fundaments und der Tragwerke erreichen. Für alle neu eingebrachten Baustoffe fordern sie eine Kreislauf-Quote von 100 Prozent. Damit ergäbe sich neben den CO2- und Ressourceneinsparungen eine Sprunginnovation für die ganze Bau- und Immobilienbranche. Vor allem müsste die Baustoff- und Bauindustrie entlang der Wertschöpfungskette ins Boot geholt werden: "Wir arbeiten bereits mit Herstellern wie Tarkett oder Heidelberg Materials zusammen, die ihre Geschäftsmodelle für das Zirkuläre Wirtschaften anpassen und industrielles Re-Use betreiben. Damit holen wir regionale Wertschöpfung nach Deutschland und Europa zurück und verringern gleichzeitig die Abhängigkeit von importierten Rohstoffen", so Peter Mösle.
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