BEIRUT / TEL AVIV - Die libanesische Hisbollah-Miliz hat nach wochenlanger Ankündigung eigenen Angaben zufolge einen ersten Vergeltungsschlag gegen Israel ausgeführt.
25.08.2024 - 15:38:24Vergeltungsangriff der Hisbollah
(Neu: Äußerung Netanjahus, Sonderanweisungen aufgehoben)
BEIRUT/TEL AVIV (dpa-AFX) - Die libanesische Hisbollah-Miliz hat nach wochenlanger Ankündigung eigenen Angaben zufolge einen ersten Vergeltungsschlag gegen Israel ausgeführt. 320 Raketen seien am frühen Morgen abgefeuert worden, erklärte die vom Iran unterstützte schiitische Miliz. Israelische Medien sprachen von mehr als 200 Raketen und rund 20 Drohnen. Israels Raketenabwehr habe Dutzende der Geschosse abgefangen. Bestätigte Berichte über Opfer gab es nicht.
Israels Armee erkannte nach eigenen Angaben "die unmittelbare Gefahr für die Bürger des Staates Israel" und begann zuvor, zahlreiche Ziele in Südlibanon zu attackieren. Die Armee bezeichnete das als einen "Akt der Selbstverteidigung".
Aus libanesischen Sicherheitskreisen hieß es, Israel habe mindestens 40 Ziele im Süden des Libanons angegriffen. Örtlichen Behörden zufolge wurden dabei zwei Menschen verletzt. Israels Kampfflugzeuge hätten unter anderem Strom- und Wasseranlagen getroffen, berichteten die staatliche libanesische Nachrichtenagentur NNA und Sicherheitskreise.
Alle Angaben der Konfliktparteien ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Ein israelischer Militärsprecher sagte, die Hisbollah habe geplant, zumindest einige Geschosse auf das Zentrum Israels abzufeuern. Das hätte eine ernsthafte Eskalation bedeutet. Die Hisbollah hat bislang hauptsächlich Ziele in der Nähe der Nordgrenze Israels zum Libanon beschossen.
Die "New York Times" zitierte einen westlichen Geheimdienstmitarbeiter, wonach sich Israels Angriff gegen Raketenwerfer im Libanon gerichtet habe. Diese seien so programmiert worden, dass sie um 5.00 Uhr Ortszeit (4.00 MESZ) in Richtung Tel Aviv im Zentrum Israels abgefeuert werden sollten.
Armee: Angriff galt Raketen und Abschussvorrichtungen der Hisbollah
Rund 100 Kampfflugzeuge hätten Ziele der Hisbollah angegriffen, so Israels Armee. Die Raketenabwehr, Marine und Luftwaffe seien daran beteiligt gewesen. Die Armee habe Tausende Raketen zerstört, die auf den Norden Israels gerichtet gewesen seien sowie "viele andere Bedrohungen entfernt", sagte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Dies sei aber "nicht das Ende der Geschichte", sagte er zu Beginn einer Sondersitzung der Regierung.
Es seien Tausende von Abschussvorrichtungen der Hisbollah angegriffen und zerstört worden, teilte der israelische Militärsprecher Daniel Hagari auf der Plattform X mit.
Nahost-Experte sieht Zusammenhang zu Gaza-Verhandlungen
Seit Beginn des Gaza-Kriegs zwischen Israel und der Hamas beschießt die Hisbollah Ziele im Norden Israels. Israels Militär wiederum greift regelmäßig Ziele im Nachbarland an. Die Hisbollah handelt nach eigenen Angaben aus Solidarität mit der Hamas.
Der israelische Analyst Ronen Bergman schrieb auf dem Nachrichtenportal "Ynet", angesichts mangelnder Fortschritte bei den Verhandlungen in Kairo über eine Waffenruhe im Gaza-Krieg sei die Hisbollah zu der Ansicht gelangt, dass die Zeit für ihre Rache an Israel nun gekommen sei. Die Hamas hatte am Vorabend verlauten lassen, Israel beharre bei den indirekten Gesprächen auf seinen Forderungen.
Ende Juli hatte Israel bei einem Luftangriff in Beirut gezielt den ranghohen Hisbollah-Kommandeur Fuad Schukr getötet. Zudem kam der Auslandschef der Hamas, Ismail Hanija, bei einer Explosion in einem Gästehaus der iranischen Regierung in Teheran ums Leben. Schukrs Tötung reklamierte Israel für sich. Zu Hanijas Tötung äußerte es sich nicht.
Die Hisbollah und der Iran kündigten daraufhin Vergeltung an. Die Hisbollah sprach am Sonntag von einem ersten Teil ihres Vergeltungsangriffs. Dieser sei vorerst beendet. "Unser Militäreinsatz für heute ist abgeschlossen", teilte die Miliz mit. Sie nannte elf israelische Basen, die ihren Angaben zufolge getroffen worden sein sollen. Von israelischer Seite gab es dafür keine Bestätigung.
Die Hisbollah kündigte eine Rede ihres Generalsekretärs Hassan Nasrallah an. Er werde dabei auch auf Israels Behauptung eingehen, eine Attacke der Hisbollah mit eigenen Angriffen im Libanon vereitelt zu haben.
Israel im Ausnahmezustand
Israel verhängte den landesweiten Ausnahmezustand. Er gelte seit 6.00 Uhr Ortszeit (5.00 Uhr MESZ) für die nächsten 48 Stunden, sagte Verteidigungsminister Joav Galant. Der Rettungsdienst rief laut Medien die höchste Bereitschaftsstufe aus. Bei dem Angriff der Hisbollah seien drei Wohnhäuser getroffen worden, davon eines in der Küstenstadt Akko.
Wegen der Bedrohungslage stellte der Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv kurzzeitig den Betrieb ein. Die Nachrichtenseite "ynet" berichtete unter Berufung auf eine nicht genannte Quelle, die Hisbollah habe einen Angriff auf eine "strategische Einrichtung im Bereich von Tel Aviv" geplant, einschließlich eines möglichen Angriffs auf den Flughafen.
Israels Ministerpräsident Netanjahu: zur Verteidigung fest entschlossen
Netanjahu sagte: "Wir sind entschlossen, alles zu unternehmen, um unser Land zu verteidigen, die sichere Rückkehr der Einwohner des Nordens in ihre Häuser zu gewährleisten und weiter eine einfache Regel zu befolgen: Wer uns Schaden zufügt, dem werden wir Schaden zufügen".
Der israelische Armeesprecher Hagari verkündete zeitweilig neue Anweisungen für Zivilisten vom Großraum Tel Aviv bis zu Israels Nordgrenze. In dem Raum könnten die Menschen normal zur Arbeit gehen und ihre Kinder in Sommerlager schicken - unter der Bedingung, dass Schutzräume innerhalb kurzer Zeit erreichbar seien. Die fortwährende Aggression der Hisbollah berge die Gefahr, "dass das libanesische Volk, das israelische Volk - und die gesamte Region - in eine weitere Eskalation hineingezogen werden", sagte Hagari.
USA sichern Israel Beistand zu
Israels Verteidigungsminister Galant sprach nach Beginn der Angriffe mit seinem US-Amtskollegen Lloyd Austin. Die beiden Minister hätten betont, wie wichtig es sei, eine regionale Eskalation zu vermeiden, hieß es. Die USA sind Israels wichtigster Verbündeter. Sie hatten zuletzt zusätzliche Kriegsschiffe, Flugzeuge und auch ein mit Raketen bestücktes Atom-U-Boot in die Region verlegt - wohl auch, um Israel im Fall eines Angriffs durch Kräfte im Libanon oder den Iran unterstützen zu können.
Gespräche über Waffenruhe im Gaza-Krieg werden fortgesetzt
Trotz des gegenseitigen Beschusses Israels und der Hisbollah werden die indirekten Gespräche über eine Waffenruhe im Gaza-Krieg fortgesetzt. USA, Ägypten und Katar wollen bei einem neuen Spitzentreffen ihrer Delegationen in Kairo versuchen, eine Einigung über eine Waffenruhe und die Freilassung der Geiseln in der Gewalt der Hamas zu erreichen. Die Vermittler haben die Hoffnung, dass mit einer Einigung auch eine Eskalation des Konflikts mit der Hisbollah und dem Iran und damit ein Flächenbrand in Nahost verhindert werden kann.