Jung und offen mit einer lebendigen Kulturszene: Estlands zweitgrößte Stadt Tartu hat alles, was man 2024 als Europäische Kulturhauptstadt so braucht.
25.01.2024 - 18:11:23«Arts of Survival»: Tartu eröffnet Kulturhauptstadtjahr. Und auch ein ungewollt aktuelles Motto.
Das Programm steht und das Warmlaufen hat bereits begonnen: Stolz und ungeduldig wartet Tartu auf seinen Start als Europäische Kulturhauptstadt 2024.
Die alte Universitäts- und Hansestadt mag zwar nur die zweitgrößte Stadt Estlands sein und wirtschaftlich deutlich im Schatten der Hauptstadt Tallinn stehen. Doch in Sachen Kultur liegt die offene, lebendige und studentisch geprägte 100 000-Einwohner-Stadt mindestens auf gleicher Höhe - sie gilt seit jeher als Herz und Seele des kleinen Ostseestaats mit nur 1,2 Millionen Einwohnern im Nordosten Europas. Und wird es in diesem Jahr als Europäische Kulturhauptstadt mehr denn je sein.
Estlands Smart City hat große Pläne für 2024 - und will sich und die umgebende Region im Süden Estlands nun auch außerhalb der Heimat profilieren. «Ich bin davon überzeugt, dass der Titel uns in Europa und auf der Landkarte Europas stärker und sichtbarer machen wird», betont Bürgermeister Urmas Klaas. «Unsere Kultur wird so noch mehr zu sehen sein und bekannt gemacht werden.»
Kunst, Bildung und Wissenschaft spielen in Tartu seit der ersten schriftlichen Erwähnung im Jahr 1030 eine wichtige Rolle. Die älteste Stadt im Baltikum war einst die Wiege des nationalen Erwachens der Esten und Geburtsort des estnischen Liederfestivals, des estnischen Theaters und im Grunde auch des estnischen Staats. Am 2. Februar 1920 wurde dort der Friedensvertrag von Dorpat - so der alte deutsche Name von Tartu - unterzeichnet, in dem Sowjetrussland die Souveränität des sich 1918 unabhängig erklärenden Estlands anerkannte.
Hanseatisches Erbe und akademische Tradition
Historisch gesehen war Tartu auch besonders im Mittelalter eine wichtige Handelsstadt. Um 1280 wurde die entlang der Handelsroute von Pskow und Nowgorod gelegene Stadt Mitglied der Hanse - und ein prosperierendes Zentrum an der Grenze zwischen Mitteleuropa und Russland. Um dieses Erbe zu würdigen, werden jedes Jahr Hansetage am und entlang des Flusses Emajõgi gefeiert, der viele Jahrhunderte den Status von Tartu als Hansestadt festlegte.
Am Flussufer wird am 26. Januar auch das Kulturhauptstadt-Programm eröffnet werden. Danach sind unter dem Motto «Arts of Survival» (Überlebenskünste) bis zum Jahresende rund 350 Projekte mit über 1000 Veranstaltungen geplant. «Die Arts of survival werden in diversen künstlerischen Bereichen interpretiert, von Volks- und Esskultur bis hin zu Musik, Film und bildender Kunst», betont Programmdirektorin Kati Torp. Sie symbolisierten «das Wissen, die Fähigkeiten und die Werte, die uns helfen werden, in Zukunft ein gutes Leben zu führen.»
Bei der Eröffnungszeremonie «All is one» soll es zum Auftakt zunächst um die Wechselbeziehungen zwischen Menschen, Ort und Epochen gehen. Im Mittelpunkt der ersten und einzigen Aufführung der live auch im estnischen Fernsehen zu sehenden Performance soll Tartu stehen, das in seiner wechselvollen Geschichte Opfer zahlreicher Kriege, Plünderungen und Zerstörungen wurde. Davon zeugen auch die verschiedenen historischen Namen der Stadt, die seit Estlands Staatsgründung 1918 als Tartu bekannt ist.
Maßgeblich geprägt werden die Identität und das Stadtbild von Tartu bis heute von der Universität. Die 1632 gegründete Universitas Tartuensis, an der im 19. Jahrhundert auch auf Deutsch unterrichtet wurde, ist eine der ältesten Hochschulen Nordeuropas - und die Alma Mater fast aller bisherigen Regierungschefs des baltischen EU-Landes.
Massenküssen in Estlands Stadt der ersten Liebe
Neben der Universität gibt es in der in Estland als Start Up-Hochburg bekannten Stadt über ein Dutzend weitere Bildungs-, Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen. Insgesamt sind dort mehr als 20.000 Studenten eingeschrieben, die für eine lebendige Kreativszene, ein pulsierendes Nachtleben und eine locker-entspannte Atmosphäre in der von einem estnischen Künstler in einer eigens neu komponierten Hymne als «Young Blood City» besungenen Stadt sorgen.
Als Wahrzeichen der jungen und offenen Stadt gilt der Brunnen vor dem rosafarbenen historischen Rathaus mit einer Skulptur zweier sich unter einem Schirm innig umarmender und küssender Studenten. Dort soll im Mai mit dem Massenküssen-Event «Kissing Tartu» ein Höhepunkt des Kulturhauptstadtprogramms stattfinden. Kein Wunder: Tartu wird in Estland nicht umsonst auch die Stadt der ersten Liebe genannt.
Andere Highlights sind etwa das Debattenfestival «Naked Truth», bei dem nackt in der Sauna diskutiert werden soll, oder das Theaterstück «Business as usual» über den Geldwäsche-Skandal um die Danske Bank in Estland. Die Kulturhauptstadt-Organisatoren wollen damit das Ziel von einer Million Besuchern aus Estland und dem Ausland erreichen und trotz eines relativ bescheidenen Budgets von 24,5 Millionen Euro neue kulturelle und wirtschaftliche Impulse in ganz Südestland setzen - einer Region mit einem ganz eigenen Charme und Charakter.
«Arts of Survival» an der Grenze zu Russland
Mit Tartu ist zum zweiten Mal eine estnische Stadt Kulturhauptstadt Europas. 2011 trug Tallinn den seit 1985 jeweils für ein Jahr vergebenen Titel - und musste damals mit diversen Sparrunden als Folge der globalen Finanzkrise umgehen. Für Tartu dagegen hat das bereits 2018 erdachte Kulturhauptstadt-Motto «Arts of Survival» durch den Angriffskrieg des benachbarten Russland gegen die Ukraine eine aktuelle und reale Bedeutung bekommen. Deutlich wurde das zuletzt auch Mitte Januar durch die Festnahme eines an der Universität Tartu lehrenden russischen Professors wegen Spionageverdachts.
«Die Grenzen von Tartu und Estland sind mehr als nur physische Grenzen. Wir leben in einer Zeit, in der europäische Zusammenarbeit, Solidarität und Demokratie für das Überleben der Kultur von entscheidender Bedeutung sind», sagt Torp. Auch Klaas verweist auf die «europäischen Werte», für die der Titel Europas Kulturhauptstadt steht, den sich Tartu mit Bodø in Norwegen und der österreichischen Region Bad Ischl und Salzkammergut teilt. «Wir brauchen diese Werte heute, um stärker zu sein und unsere Demokratie zu schützen. Hier in Europa.»