Terrorismus, Interview

Düsseldorf - Zwei Jahre nach dem Überfall und der Geiselnahme der Hamas spricht Joachim Lenz, Propst in Jerusalem, über israelbezogenen Antisemitismus, Traumata auf beiden Seiten und kleine Leuchttürme der Hoffnung.

07.10.2025 - 09:15:00

Jerusalemer Propst: Viele hoffen natürlich, dass die Geiseln endlich freikommen und der Krieg endet / Joachim Lenz im Interview zu den Folgen des 7. Oktober

Herr Lenz, am 7. Oktober jährt sich der Terrorangriff der Hamas auf Israel zum zweiten Mal. Wie sehr hat sich das Land in Ihrer Wahrnehmung seither verändert?

Joachim Lenz: Terror und Krieg beherrschen die Nachrichten - in Israel wie in den palästinensischen Gebieten. Israelis erzählen mir, dass sie in den Wochen nach dem 7. Oktober sehr direkte, persönliche Angst ums Überleben hatten. Das ist vorerst vorbei. Libanon, Syrien, Iran und vor allem die Hamas werden nicht mehr als akute Bedrohungen wahrgenommen. Aber der Konflikt ist ungelöst, die latente Bedrohung bleibt, immer noch kommen einzelne Drohnen und Raketen aus dem Jemen. In der Westbank leiden die Menschen unter viel Gewalt und großer wirtschaftlicher Not. In Bethlehem liegt die Arbeitslosigkeit weit über 80 Prozent.

Selbst in meinem kleinen christlichen Bekanntenkreis weiß ich von einigen, die ausgereist sind oder in ein anderes Land gehen wollen, wenn es nicht besser wird. Der Exodus der christlichen Familien aus dem Heiligen Land hält an. Dass es mittel- und langfristig besser wird, wagt kaum jemand zu hoffen. Ob der derzeitige Trump-Friedensplan funktionieren kann, weiß auch niemand. Viele im Lande hoffen natürlich, dass die Geiseln endlich freikommen und der Krieg endet. Müdigkeit und Aussichtslosigkeit sind gewachsen. Gleich geblieben ist, was der israelische Historiker Yuval Noah Harari vor fast zwei Jahren gesagt hat: In unseren Seelen ist so viel Trauer und Schmerz, dass da kein Platz bleibt für das Leid der anderen. Das gilt für die arabische wie für die jüdische Seite.

Die israelische Regierung steht weltweit in der Kritik wegen der Kriegsführung im Gazastreifen. Wie breit schätzen Sie den Protest innerhalb der israelischen Gesellschaft selbst ein?

Lenz: Israel hat eine sehr lebendige Zivilgesellschaft. Samstagabends, nach dem Ende des Schabbat, sind regelmäßig Hunderttausende auf den Straßen, um gegen den Krieg und für eine Freilassung der Geiseln zu demonstrieren, die seit zwei Jahren in den Tunneln der Terrororganisation Hamas gefangen gehalten werden. Der Staat Israel ist als ein sicherer Ort für Jüdinnen und Juden angelegt worden, wo sie mit Menschen auch anderer Religionen in Frieden und Gerechtigkeit zusammenleben wollen. So hat es die israelische Unabhängigkeitserklärung von 1948 festgelegt. Die allermeisten Israelis, die ich kenne, wollen genau das. Dass dieser Staat möglich ist, hat unsere rheinische Landessynode 1980 als "Zeichen der Treue Gottes" bezeichnet. In Umfragen wird aber auch deutlich, wie tief die Erbitterung und Sorge nach dem 7. Oktober in den Seelen sitzt. Eine klare Mehrheit der Bevölkerung ist gegen eine Zweistaatenlösung, das war vor zwei Jahren noch anders.

Immer mehr Länder erkennen den Staat Palästina an, Deutschland bisher nicht. Haben Sie Verständnis dafür?

Lenz: Ich bin kein politischer Analyst. Den alten Plan, einen belastbaren Friedensprozess auf den Weg zu bringen, der eine stabile Zweistaatenlösung und dann auch die Anerkennung Palästinas zum Ziel hat, finde ich weiter einleuchtend. Leider konnte keine der beiden Seiten in den vergangenen Jahrzehnten diesen gemeinsamen Weg erfolgreich beginnen. In unserer kleinen deutschsprachigen Gemeinde sprechen wir natürlich miteinander über diese Fragen. Lösungen haben wir nicht anzubieten. Wir sind uns auch einig darüber, dass es nicht unsere Aufgabe sein kann, unsere Lösungen quasi von außen zu präsentieren.

Manchmal scheint es, im Nahostkonflikt gehe es mehr um Begriffe als um Menschenleben: Genozid ja oder nein, Hungersnot ja oder nein, Zweistaatenlösung ja oder nein. Erleben Sie überhaupt noch Momente einer gemäßigteren, um Verständigung ringenden Debatte?

Lenz: Im politischen Umfeld sehe ich da gerade fast nichts. Zwei tief traumatisierte Völker stehen sich gegenüber. Aber es gibt weiterhin Menschenrechts- und Friedensgruppen wie die Rabbis for Human Rights, das Parents Circle Families Forum oder die Combatants for Peace. In Jerusalem hat sich ein interreligiöses Gesprächsforum zusammengefunden - jetzt erst recht. Das sind nur kleine Organisationen und wenige Menschen, aber es sind die Leuchttürme der Hoffnung! Sie verdienen jede Unterstützung. Und es gibt zum Beispiel den palästinensischen Arzt, der sich von einem israelischen Rabbiner zum Schabbat-Dinner einladen lässt: zögerlich, weil er dafür viel Ärger in seinem Umfeld riskiert. Aber er tut's. Beide haben sich bei einer Taizé-Andacht in unserer Himmelfahrtkirche auf dem Ölberg kennengelernt, was an sich schon eine kleine Hoffnungsgeschichte ist.

Israel steht weltweit am Pranger, von den Verbrechen der Hamas ist kaum mehr die Rede. Wie groß ist die Verbitterung darüber in Israel?

Lenz: In den vergangenen zehn Jahren haben sich drei Viertel aller staatenbezogenen Resolutionen der Vereinten Nationen gegen Israel gerichtet. Das letzte Viertel richtet sich gegen alle Schurkenstaaten der Welt. Nicht erst jetzt fühlen sich viele Menschen hier vom Rest der Welt verlassen und allein. Weil wir am Ende allein dastehen, muss es unseren wehrhaften Staat geben - mit diesem Gedanken im Hinterkopf wurde Israel 1948 gegründet, und der Terroranschlag der Hamas hat das bestätigt.

Das Verlassenheitsgefühl betrifft allerdings Israelis wie Palästinenser gleichermaßen. Seit Kriegsbeginn hat kein islamischer Staat die diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen. Die Staatengemeinschaft hat das massenhafte Töten im Gazastreifen nicht gestoppt. Da ist auf der palästinensischen Seite viel Verzweiflung, allen Solidaritätserklärungen zum Trotz. Beide Seiten wollen Anerkennung ihres Leids und Verständnis für ihr Handeln. Beide tragen die Traumata von Terror und Krieg mit sich herum. Und sie reden nicht miteinander.

Überall bricht sich ein immer ungehemmterer Antisemitismus Bahn. Er richtet sich gegen Künstler, Unternehmen, jüdische Menschen im Alltag. Was wären aus Ihrer Sicht jetzt notwendige Signale?

Lenz: Ich bin absolut dankbar, dass meine Kirche unermüdlich Flagge gegen jede Form von Antisemitismus zeigt. Sowohl meine heimische Evangelische Kirche im Rheinland als auch die Evangelische Kirche in Deutschland, die mich nach Jerusalem entsandt hat, sind da ganz klar und haben auch Konsequenzen benannt, von Bildungsarbeit über Gottesdienste bis zur Unterstützung jüdischer Präsenz in der Gesellschaft. Nun herrscht gerade auch viel israelbezogener Antisemitismus. Der ist nicht einfach durch die schrecklichen Bilder aus dem Gazastreifen zu erklären. Israel sei "der Jude unter den Völkern", hat der Holocaust- und Antisemitismusforscher Léon Poliakov gesagt - und zwar bereits vor fast 60 Jahren. Wir erleben jetzt, dass er recht hat. Und wir müssen sagen, dass das Unrecht ist.

Wenn Sie 2026 Jerusalem nach sechs Jahren wieder verlassen, haben Sie erst die Corona-Pandemie und dann den Hamas-Terrorangriff, die Bomben auf Israel und den Krieg im Libanon und im Gazastreifen miterlebt. Können Sie da noch irgendeinen Hoffnungsgedanken mit nach Hause nehmen?

Lenz: Wir sollen allezeit Rechenschaft geben über die Hoffnung, die in uns ist, heißt es in der Bibel. (1. Petrus 3,15) In unserer Gemeinde erinnern wir uns immer wieder gegenseitig an Jesus, den Friedefürsten. Der war ja höchstpersönlich in unserer Stadt und hat uns in Gottes Namen den Frieden erklärt. Das kann und wird er wieder tun - hoffentlich bald und hoffentlich so, dass die Regierenden und die Regierten es endlich verstehen, gleich welcher Religion oder Nationalität sie sind.

Wie das gehen soll? Ich weiß es nicht. Sind die derzeit laufenden Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas ein Anfang? Vielleicht. Hoffentlich! Aber ich weiß zum Beispiel, dass mein Großvater 1944 Besatzungssoldat in Paris war. Nun lebt mein ältester Sohn dort seit Jahren und lehrt an der Sorbonne. Nach Jahrhunderten der "Erbfeindschaft" herrscht zutiefst belastbarer Friede zwischen zwei Völkern. "Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen": Was Primo Levi warnend über die Schoah gesagt hat, gilt auch für Friedenswege. Das glaube und hoffe ich von Herzen. Jerusalem ist ganz oben auf der Liste der Orte, wo das möglich werden muss.

Zur Person: Joachim Lenz

Der gebürtige Wuppertaler Joachim Lenz war zunächst Gemeindepfarrer in Enkirch an der Mosel. Im Vorfeld des Kirchentags 2007 in Köln wurde er für drei Jahre zum Kirchentagsbeauftragten der Evangelischen Kirche im Rheinland berufen und arbeitete anschließend als Pastor für den Kirchentag. 2015 wechselte er als Theologischer Vorstand und Direktor zur Berliner Stadtmission. Bis zu seinem Amtsantritt in Jerusalem im August 2020 war er ehrenamtlicher Sprecher des Bündnisses United4Rescue.

Stichwort: Propst in Jerusalem

Der Propst ist der erste Pastor der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache zu Jerusalem. Zudem ist er im Heiligen Land und in Jordanien Repräsentant der Evangelischen Kirche in Deutschland. Das gilt für die Jerusalem-Stiftung, der die Erlöserkirche und die Propstei gehören, und für die Auguste-Viktoria-Stiftung, die das Auguste-Viktoria-Hospital in Ostjerusalem betreibt. Die dritte Stiftung trägt das Deutsche Evangelische Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes.

(Interview: Ekkehard Rüger)

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