Köln - Erstmals will eine deutschlandweite Studie umfassende Einblicke zu Missbrauch in der evangelischen Kirche liefern - und konkrete Fallzahlen nennen.
24.01.2024 - 06:00:06MONITOR-Recherche: Evangelische Missbrauchsstudie zeigt nur die Spitze des Eisbergs. Doch MONITOR-Recherchen ergeben, dass viele Fälle nicht untersucht wurden.
Die diese Woche erscheinende bundesweite Studie zu sexuellem Missbrauch in der evangelischen Kirche wird auf einer eingeschränkten Quellenlage basieren. Nach Recherchen des ARD-Magazins MONITOR haben am Projekt beteiligte Forscher bereits intern beklagt, dass sie für die Erhebung der Gesamtzahlen auf Daten aus Personalakten verzichten mussten. Gerade diese Akten hätten erst einen Überblick über das tatsächliche Ausmaß der Missbrauchsfälle liefern können. So zeige die Studie nur die Spitze des Eisbergs.
Nur eine Landeskirche lieferte die Daten aus Personalakten wie gewünscht, während alle anderen der insgesamt 20 Landeskirchen der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) sowie die Diakonischen Werke dem Forschungsteam lediglich Details aus Disziplinarakten über Beschuldigte bereitstellten. Diese Akten geben jedoch nur Auskünfte über einen Bruchteil der Missbrauchsfälle.
Begründung der Kirche: Personalmangel
Wie MONITOR weiter erfuhr, erklärten die Landeskirchen im Verlauf des Forschungsprojekt, nicht genügend Personal zu haben, um die geforderten Daten bereitstellen zu können. Die Folge: Während 2018 für das katholische Pendant, die sogenannte MHG-Studie, fast 40.000 Personalakten ausgewertet wurden, konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im neuen evangelischen Projekt nicht auf die gleichen Daten zurückgreifen.
Daraus ergibt sich ein reduzierender Effekt: Die anhand von Akten recherchierten Zahlen von Missbrauchstätern wird deutlich geringer ausfallen, als es bei der eigentlich geplanten Personalakten-Analyse der Fall gewesen wäre. Auch die Zahl von Betroffenen droht laut den Recherchen von MONITOR aufgrund der selektiven Datenlage unterschätzt zu werden.
Vor Veröffentlichung der Studie am Donnerstag wollten sich die an der Studie beteiligten Wissenschaftler trotz Nachfrage von MONITOR nicht dazu äußern.
Wollen die Landeskirchen wirklich aufarbeiten?
Indes kritisierte der Kölner Staatsrechtsprofessor Stephan Rixen, der nicht an der Studie mitgearbeitet hat, im Gespräch mit MONITOR das Verhalten von EKD und Diakonie. Oftmals seien bei Taten von sexualisierter Gewalt gar keine Disziplinarakten angelegt worden. "Es ist völlig absurd, dass nicht die Personalakten untersucht werden, weil sich bei realistischer Betrachtung auch in Personalakten Anhaltspunkte für Fehlverhalten finden”, sagte Rixen, der der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung angehört. “Wenn die Landeskirchen und die Diakonie Personalakten nicht zur Verfügung stellen, müssen sie sich die Frage gefallen lassen, ob sie den Missbrauch in der evangelischen Kirche wirklich umfassend aufarbeiten wollen.”
“Größtmögliche Transparenz”
Ein Sprecher der EKD sagte auf Anfrage, die evangelische Kirche habe extra ihr Datenschutzgesetz geändert, um den Forschenden zum Beispiel für Fallanalysen Einblick in Personalakten zu ermöglichen. Er bestätigte gegenüber MONITOR, dass die Bereitstellung von Daten “eine besondere Herausforderung und schwieriger als ursprünglich angenommen” gewesen sei. Daraus folgende Verzögerungen hätten Einfluss auf den weiteren Projektverlauf gehabt. Auf Basis umfangreicher Gespräche hätten die Forschenden einen geänderten Plan vorgeschlagen, “der einen Fokus auf Disziplinarakten vorsah.” Der Sprecher erklärte, das Ziel der Kirche sei weiterhin "größtmögliche Transparenz".
Betroffene von Missbrauch befürchten, dass die Dunkelziffer in diesem Fall noch höher ausfallen wird als bei anderen Studien. Detlef Zander, einer von zwei Sprechern der Betroffenen in der evangelischen Kirche, sagte MONITOR: “Ich habe die Befürchtung, dass die Studie schön geredet wird. Dass die Landeskirche und die Diakonie sagen: ‘So schlimm ist es ja gar nicht’”. Er finde die Analyse der Personalakten entscheidend, weil dort auch Vertuschungsversuche stehen könnten. “Vielleicht wollte die Landeskirche die Akten deshalb aus Angst nicht herausgeben".
Mehr zu diesem Thema in MONITOR, Donnerstag 25.01.2024 um 21:45 in Das Erste
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