Nordsee-Seelachs, MSC-Siegel

Hamburg - Der Verlust des MSC-Siegels für Nordsee-Seelachs wirft Fragen auf: Was steckt dahinter? Was bedeutet das für die Einschätzung von Nachhaltigkeit? Und wie lässt sich diese Entwicklung sachlich einordnen? Das Fisch-Informationszentrum (FIZ) in Hamburg gibt einen Überblick - verständlich, faktenbasiert und aus neutraler Perspektive.

02.09.2025 - 10:40:39

Nordsee-Seelachs verliert MSC-Siegel / Eine sachliche Einordnung

Was ist passiert?

Nordsee-Seelachs darf vorerst nicht mehr das Nachhaltigkeitssiegel des Marine Stewardship Council (MSC) tragen. Die betroffenen Fischereien aus mehreren europäischen Ländern, u.a. aus Norwegen, Frankreich, Schottland, Dänemark, Schweden und den Niederlanden sowie aus Deutschland, das Unternehmen Kutterfisch-Zentrale aus Cuxhaven, wurden jahrelang erfolgreich nach dem MSC-Standard zertifiziert. Doch der Verlust des Siegels basiert nicht auf einer Regelverletzung der Fischereien, sondern auf Änderungen in der Biologie des Bestandes und einer methodischen Anpassung in der wissenschaftlichen Bewertung des Bestands.

Was ist der MSC und wie funktioniert das Zertifikat?

Der MSC ist eine internationale gemeinnützige Organisation, die Fischereien zertifiziert, die Umwelt- und Nachhaltigkeitsstandards einhalten. Zertifizierungen erfolgen jedoch nicht durch den MSC selbst, sondern durch unabhängige Prüfstellen (Zertifizierer), die auf Basis der jeweils aktuellen wissenschaftlichen Daten und unter Anwendung festgelegter Bewertungsrahmen entscheiden. Um das Siegel zu erhalten, muss ein Fischerei-Unternehmen Bestände nachhaltig nutzen, das Ökosystem schonen und wirksam gemanagt sein, zum Beispiel durch Fangquoten und Kontrolle. Im Unterschied zur gesetzlichen Fischereiregulierung, wie der Gemeinsamen Fischereipolitik der EU, die Mindeststandards für alle EU-Fischereien setzt, geht der MSC-Standard oft darüber hinaus und verlangt beispielsweise auch Vorsorgeansätze bei Datenunsicherheit.

Was war die Ursache für den Zertifikatsverlust?

Der ICES (International Council for the Exploration of the Sea) hatte im Juni 2024 das Bewertungsmodell für den Seelachsbestand in der Nordsee aktualisiert: Als Konsequenz wurde die wissenschaftlich empfohlene Bestandsgröße, oberhalb der sich der Bestand langfristig einpendeln sollte (MSY), von 149.000 auf rund 180.000 Tonnen angehoben. Auch der Zielwert für die fischereiliche Sterblichkeit (F, maximum sustainable yield), die die Basis für die Fangquotenberechnungen darstellt, musste neu berechnet werden. Da die EU ihre Fangquoten für 2024 aber bereits im Dezember 2023 auf Basis der bislang geltenden Zielsterblichkeit beschlossen hatte, ergab sich durch die Anpassung der biologischen Referenzwerte für den Bestand eine minimale rechnerische Überschreitung der nachhaltigen Fangmenge um 1,3 Prozent. "Zurzeit befinden sich auch die aktuelle Bestandsgröße, die Bestandsentwicklung und die derzeitige Nachwuchsproduktion beim Nordsee-Seelachs im Grenzbereich", erklärt Kathrin Runge, Programm-Managerin beim MSC und betont: "Diese Kombination aus mehreren Faktoren veranlasste die Gutachter, das Siegel zu entziehen. Wenn es nur das geringfügige Überschreiten der nachhaltigen Fangmenge gewesen wäre, hätte das nicht zu einer Suspendierung geführt."

Was sagt die Wissenschaft dazu?

Die wissenschaftlichen Grundlagen für eine nachhaltige Bestandsbewirtschaftung der Fischbestände in unseren Gewässern liefert der ICES in Kopenhagen. Im Rahmen der wissenschaftlichen Fangquotenempfehlungen gibt es immer wieder die Notwendigkeit, verwendete Modelle und biologische Referenzwerte zu überprüfen. Diese Überprüfungen führen manchmal zu kurzfristigen und deutlichen Änderungen in der Einschätzung des Zustands von Fischbeständen, weil sich die Meeresökosysteme unter dem Klimawandel hochdynamisch verändern. Abrupte Änderungen stellen die Fischerei selbst, aber auch die politische Steuerung von Fischereien und nicht zuletzt die MSC-Zertifizierung vor massive Herausforderungen, weil plötzliche Änderungen in ihren Systemen nicht angelegt sind. Laut Dr. Gerd Kraus, Leiter des Thünen-Instituts für Seefischerei in Bremerhaven, ist die Ursache für den aktuellen Verlust des Siegels in der Seelachsfischerei das Ergebnis einer solchen Überprüfung: "Die aktuelle Lage ist das Ergebnis einer methodischen Neubewertung der verwendeten Modelle und Referenzwerte. Sie ist nicht Folge eines Fehlverhaltens der Fischerei. Auch das Fischereimanagement funktioniert, die Fangquoten werden an die aktuelle Situation angepasst, damit der Bestand sich so schnell wie möglich wieder auf das MSY-Niveau entwickeln kann. Schwankungen in der Produktivität von Fischbeständen sind normal und das Fischereimanagement greift entsprechend steuernd ein. Aus wissenschaftlicher Sicht spricht daher vieles dafür, diese Fischerei weiterhin als nachhaltig einzustufen." Eine andere Frage ist, wie sich der Bestand künftig unter dem Klimawandel weiterentwickeln wird: Laut Kraus sind die Seelachse in den vergangenen Jahren im Schnitt leichter geworden und die Produktivität des Bestandes hat sich verringert. Ursache sei nicht zu viel Fischerei, sondern Änderungen der Umwelt und ein sinkendes Nahrungsangebot: "Der Nahrungsmangel führt zu individuellen Gewichtsverlusten, die auf Bestandsebene die Gesamtbiomasse reduzieren, obwohl sich die Anzahl der Seelachse vergleichsweise stabil entwickelt. Für uns Fischereibiologen ist das ein Indiz dafür, dass sich in der Nordsee die sogenannte ,carrying capacity' für den Seelachsbestand weiter ändert. Damit ist es sehr wahrscheinlich, dass wir unsere wissenschaftlichen Einschätzungen über diesen Bestand sehr bald erneut revidieren müssen - völlig unabhängig von der Fischerei. Auf solche Dynamiken müssen sich leider alle - auch der MSC - künftig häufiger einstellen und überlegen, wie man dem besser Rechnung tragen kann."

Was sagt der MSC?

"Die Entscheidung, ob eine Fischerei suspendiert (oder auch: zertifiziert) wird, trifft nicht der MSC, sondern diese Entscheidung wird wissenschaftsbasiert durch unabhängige Gutachter getroffen", so Kathrin Runge. "Vor dem Hintergrund, dass sich die Fischerei über all die Jahre ihrer Zertifizierung immer vorbildlich verhalten hat, was ihre Nachhaltigkeit betrifft, ist die aktuelle Suspendierung traurig und ohne Zweifel sehr bitter für die Fischerei." Sie habe verantwortungsvoll gehandelt - und müsse dennoch die Folgen und Erfordernisse, die der Klimawandel und Veränderungen im Ökosystem mit sich bringen, mittragen. Der MSC hoffe, dass sich die Bestandssituation und deren wissenschaftliche Bewertung möglichst bald wieder verbessere, so dass die Fischerei ihr Zertifikat zurückerlangen könne. Runge betont: "So lange wie die Gesundheit oder die Erholung eines Bestandes, wie aktuell beim Nordsee-Seelachs, wissenschaftlich in Frage gestellt wird, ist es folgerichtig, dass Fisch aus diesem Bestand erst einmal kein MSC-Siegel mehr trägt."

Was sagt die Fischerei?

Die betroffene Fischerei hat verantwortungsvoll reagiert und die Quote 2024 sogar erneut nicht ausgeschöpft. Vom ICES wurde eine Quote von knapp 71.000 Tonnen ausgelobt, die Fischerei hat knapp 53.000 Tonnen gefischt. Rund 18.000 Tonnen oder 25 Prozent der Quote wurden nicht genutzt. Kai-Arne Schmidt, Geschäftsführer der Erzeugergemeinschaft Kutterfisch: "Wir lassen uns nicht entmutigen. Unser Ziel bleibt es, nachhaltig und nachvollziehbar zu wirtschaften - auch ohne aktuelles Siegel. Wir prüfen derzeit gemeinsam mit Wissenschaft und Zertifizierern, wie wir die Voraussetzungen für eine Re-Zertifizierung schnellstmöglich wieder erfüllen können."

Was bedeutet das für Handel und Verbraucher?

Der Verlust des MSC-Siegels bedeutet kein Versagen der Fischereipolitik, sondern zeigt die Grenzen eines Systems, das wissenschaftlich korrekt sein will, aber in einem sich schnell verändernden Ökosystem nicht immer Schritt halten kann. Gleichzeitig hat der Schritt handfeste Auswirkungen auf den Markt: Für den Handel entfällt ein wichtiges Argument in der Kundenkommunikation - das bekannte Siegel. Für Verbraucherinnen und Verbraucher wird nachhaltiger Konsum dadurch nicht einfacher. Zwar gibt es weiterhin Seelachs aus anderen Herkunftsregionen mit Zertifikat, doch viele dieser Produkte stammen nicht aus regionaler, deutscher Fischerei. Gerade deshalb ist es besonders bitter, dass ausgerechnet die letzte bedeutende deutsche Seelachsfischerei ihr Nachhaltigkeitsprädikat verliert. Dipl. oec. troph. Julia Steinberg-Böthig, PR-Referentin des Fisch-Informationszentrums, sagt: "Die Zertifizierungslösung war formal korrekt, aber praktisch kaum nachvollziehbar. Verbraucher sollten wissen: Der Nordsee-Seelachs wird nach wie vor verantwortungsvoll gefangen. Die heimische Fischerei zeigt, dass sie wissenschaftliche Empfehlungen respektiert - und in diesem Fall sogar unterboten hat."

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