Seit dem blutigen Terrorangriff der Hamas auf Israel ist das Zusammenleben auch hier enorm kompliziert geworden.
07.04.2024 - 15:00:09Zeiten der Angst, der Wut: Deutschland nach dem 7. Oktober. Die Unversöhnlichen sind oft lauter als jene, die den Dialog suchen.
Es ist ein unscheinbarer Ort für diesen jüdisch-muslimischen Dialog über Vielfalt und Toleranz, Liebe und Hass seit dem 7. Oktober. Im verwitterten Alten Stadtbad in Berlin-Lichtenberg, in einem Raum hinten links mit grauen Fliesen und braunem Linoleum, diskutieren die Imamin Seyran Ates und der Rabbiner Boris Ronis vor ein paar Dutzend Menschen. Doch selbst in diesem entlegenen Winkel brauchen sie Personenschützer. Vor dem Bad wacht die Polizei. Das ist der Stand der Dinge in Deutschland im Frühjahr 2024.
Rund ein halbes Jahr nach dem blutigen Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel mit 1200 Toten und 230 Entführten bleibt nicht nur die Sicherheitslage in Deutschland angespannt. Das Zusammenleben ist enorm kompliziert geworden. Bundesweit schoss die Zahl antisemitischer Anfeindungen und Angriffe hoch, ebenso die Zahl antimuslimischer Vorfälle. Auf den Straßen, an Schulen und Universitäten, in der Kultur, überall bricht der Konflikt auf. Aktivisten prangern Israel an für Not und Tod nach der Militäroffensive gegen die Hamas im Gazastreifen - oft mit einer Feindseligkeit, die Juden in Deutschland tief verletzt und erschreckt. Zugleich fühlen sich beide Seiten von der Mehrheit im Land kaum gesehen. Es sind Zeiten der Angst, der Wut, der Sprachlosigkeit.
«Schockstarre vor Schrecken»
Schon deshalb ist dieser Abend im Stadtbad bemerkenswert - und weil sich die Muslimin Ates und der Rabbiner Ronis sehr einig sind. «Was am 7. Oktober passierte, das hat mich in eine Schockstarre vor Schrecken und vor Wut und Unfassbarkeit gebracht», sagt Ates, Gründerin der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee und nach eigenen Worten aktive Linke. Solidarität mit der Hamas? Undenkbar, sagt sie. «Es gibt sehr viele Muslime, das kann ich Ihnen sagen, die genau diese Worte, Wort für Wort, unterschreiben würden, dass sie auf der Seite Israels stehen.» Zugleich erzählt die 60-Jährige von «Hasstiraden» wegen ihrer Haltung. Ihre Moschee wird von Terroristen bedroht. Sie selbst habe seit 18 Jahren Personenschutz, sagt Ates.
Die Unversöhnlichen sind oft lauter als jene, die den Dialog suchen. Aufgebrachte propalästinensische Aktivisten brüllten bei der Leipziger Buchmesse gegen Bundeskanzler Olaf Scholz an und dann auch gegen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Zuvor gab es allein in Berlin: einen versuchten Brandanschlag auf eine Synagoge; Demonstrationen und Rangeleien an Unis; eine gefährliche Prügelattacke gegen einen jüdischen Studenten; Gebrüll bei einer Diskussion mit einer israelischen Verfassungsrichterin und bei einer Lesung von Hannah-Arendt-Texten.
Und dann natürlich der Eklat bei der Berlinale-Gala. Dort forderten Filmemacher nicht nur einen sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen, einzelne Teilnehmer warfen Israel «Genozid» und «Apartheid» vor. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, sprach prompt von «Hetze gegen Israel und Juden», und auch Politikerinnen und Politiker brandmarkten die Äußerungen nicht nur als einseitig, sondern als klar antisemitisch.
«Unter dem Deckmantel vermeintlicher Kritik»
Immer wieder geht es genau darum: Darf man die israelische Regierung in Deutschland nicht kritisieren, nicht auf die vielen Tausend Toten, nicht auf die humanitäre Katastrophe in Gaza hinweisen? Natürlich sei Kritik im demokratischen Diskurs wichtig, sagt der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein. «Doch wer Israel einen Genozid vorwirft, handelt klar antisemitisch.» Denn das würde bedeuten, dass die israelische Armee angreift, um Palästinenser zu töten – weil sie Palästinenser seien. «Tatsache ist hingegen, dass sich Israel nach dem grausamen, terroristischen Angriff der Hamas verteidigt», betont Klein.
Tatsächlich sei es «nicht schwer zu erkennen, wo der Unterschied zwischen legitimer Kritik an staatlichem Handeln Israels einerseits und antisemitischen Äußerungen unter dem Deckmantel vermeintlicher Kritik liegt», meint Klein. Eine wichtige Richtschnur sei: «Lege ich in der Bewertung die gleichen Standards an, wie ich sie jedem anderen Land beimessen würde?» Werde Israel dämonisiert, dann sei das keine Kritik an konkreter Politik, sondern der Versuch der Entmenschlichung und damit antisemitisch. Das gelte auch, wenn dem Staat das Existenzrecht abgesprochen werde, sagt Klein.
Ablehnung der Hamas - aber wenig Rückhalt für israelisches Vorgehen
Für viele bleibt das Thema dennoch unübersichtlich. In einer Umfrage für die Nichtregierungsorganisation European Leadership Network vom Januar bewerteten acht von zehn der 2500 Teilnehmer die Rolle der Terrororganisation Hamas im aktuellen Krieg negativ. Einer von zehn sah das anders. Die übrigen waren unentschieden. Aber klaren Rückhalt für die israelische Militäroffensive gab es auch nicht. In derselben Umfrage fanden sie nur 41,8 Prozent angemessen - 41,1 Prozent fanden das nicht. 17,1 Prozent waren unentschieden. Im ZDF-Politbarometer Ende März fanden 69 Prozent das israelische militärische Vorgehen angesichts der vielen Opfer im Gazastreifen nicht gerechtfertigt.
Die Bundesregierung äußert inzwischen selbst immer schärfere Kritik an der Regierung von Benjamin Netanjahu und fordert mehr humanitäre Hilfe für die Palästinenser. Doch grundsätzlich bleibt sie dabei: «Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson.» Aber auch diesem Satz stimmten in der ELN-Umfrage vom Januar nur 37,4 Prozent der Teilnehmenden zu, 46 Prozent taten dies nicht, 16,6 Prozent waren unentschieden. Auch die Zahl der Unentschiedenen zeigt: Viele trauen sich kein Urteil zu oder möchten sich nicht festlegen.
«Es gab und gibt diese Sprachlosigkeit bis tief in den politischen Raum», sagt Frank Schwabe, der Beauftragte der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit. «Ich habe das auch bei mir bemerkt. Es ist wahnsinnig schwer, sich in diesem Konflikt sprachlich zu bewegen. Jedes falsche Wort kann sofort Proteste auslösen.» Das führe zu Sprachlosigkeit, auch in beiden Communitys, weiß der SPD-Bundestagsabgeordnete.
«Projektionsfläche für Judenhass»
Aber muss man in Deutschland überhaupt eine Meinung zu Israel oder zur Hamas haben? Geht es nicht vor allem darum, klar gegen Hass und Hetze im eigenen Land Stellung zu beziehen? In einer idealen Welt ließe sich beides vielleicht trennen, im echten Leben eher nicht. «Bei Muslimen gibt es diese Grundstimmung, dass man sich zu Unrecht unter Generalverdacht fühlt und dass das Anliegen, auf das Leiden der Palästinenser hinzuweisen, nicht gesehen wird von der deutschen Gesellschaft», sagt Schwabe. In der jüdischen Community herrsche zugleich tiefe Verunsicherung.
Der Zentralrat der Juden formulierte es dieser Tage so: «Das Gefühl ständiger Anfeindungen einer muslimisch geprägten antisemitischen Szene und eine in Teilen der Gesellschaft vorherrschende Empathielosigkeit gegenüber diesen Erfahrungen war gerade für junge Jüdinnen und Juden ein tiefer Einschnitt.»
Das bestätigt eine junge Frau aus der jüdischen Gemeinde zu Berlin, die als Erstes bittet, ihren Namen nicht zu nennen. Dann schreibt sie in einer E-Mail: «Heute teile ich meine Identität nur noch in geschützten Räumen. Ich merke, dass viele Menschen sich nicht für meine Meinung oder Position interessieren, sondern mich lediglich als Projektionsfläche nutzen, um endlich ihrem Judenhass, gut getarnt als Israelkritik, freien Lauf zu lassen.»
Es sei nicht mehr möglich, auf der Straße oder in der S-Bahn zu dem Thema zu telefonieren. Jüdische und israelische Symbole zu tragen, gehe sowieso nicht. «Wie kann es sein, dass ich mich in Deutschland in Gefahr begebe, wenn ich auf der Straße einen Davidstern trage, Personen, die sich symbolisch mit Palästinensern solidarisieren aber nicht? Da existiert ganz offensichtlich ein strukturelles Ungleichgewicht.» Menschen jüdischen Glaubens: verängstigt und bedrängt, ausgerechnet in Deutschland. Menschen mit arabischen Wurzeln und ihre Unterstützer: wütend und verzweifelt. Wo ist der Ausgang aus dieser Sackgasse?
«Fragt euch, was ihr voneinander wisst»
Radikale Palästinenserorganisationen wie Samidoun sind inzwischen in Deutschland verboten ebenso wie Losungen, die Israel das Existenzrecht absprechen. Der Einbürgerungstest wird um Fragen zu Antisemitismus ergänzt, das Berliner Hochschulgesetz soll künftig wieder den Rauswurf von Extremisten erlauben. Und Berlin diskutiert gerade Wege, einen als «Judenhassveranstaltung» gebrandmarkten Palästina-Kongress Mitte April zu unterbinden.
Der Religionsbeauftragte Schwabe ist sich allerdings sicher: «Man kommt da nicht mit dem Strafrecht raus.» Eine Lösung liege nur in «einem ganz, ganz intensiven Dialog». Er schöpft Zuversicht aus seinen eigenen Besuchen in Klassen mit überwiegend muslimischen Schülern. «Manchmal habe ich nicht auf jede Frage eine Antwort. Aber es funktioniert, man kann Verständnis stiften.»
Im Alten Stadtbad Lichtenberg machen sie es vor an jenem Abend, die progressive Muslimin Ates und der Rabbiner Ronis. «Fragt euch gegenseitig, was ihr voneinander wisst, das ist ja oftmals der Fall, dass sich die meisten gar nicht kennen», sagt Ates. «Was kann man machen? Palästinensische und jüdische junge Menschen zusammen bringen.» Und der Rabbiner: «Es gibt ein Miteinander, es gibt ein Nebeneinander, es gibt Leute, die sich begegnen können. Und sie werden feststellen, dass das Leben miteinander, dass die Probleme die ähnlichen sind, dass die Freuden die ähnlichen sind, dass die Tränen die ähnlichen sind.» Wenn es gelinge, miteinander zu reden, «dann wird dieser Konflikt langsam, aber sicher zu Ende gehen, und der Hass wird langsam, aber sicher weggehen.»