Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen sind für beide Länder kompliziert.
02.09.2024 - 04:00:41Zeit zum Krötenschlucken - und andere Lehren aus den Wahlen. Aber sie könnten noch weitreichendere Konsequenzen haben, auch im Bund.
Nach dem Beben der beiden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen kommen auf die Politik in beiden Ländern und im Bund unruhige Zeiten zu. Die Ampel-Koalition in Berlin steht zwar noch, doch sie wirkt bis ins Mark erschüttert und ziemlich ratlos. In Dresden und Erfurt beginnt die mühsame Suche nach Mehrheiten. Fünf Dinge, die nun anstehen:
1. Die Parteienlandschaft sortiert sich neu
Die CDU will nicht mit der Linken oder der AfD regieren. Und das will sie eigentlich auch nicht mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) - zumindest nicht zu den vom BSW genannten Bedingungen. Nur: Nach den komplizierten Wahlergebnissen in Thüringen und Sachsen braucht es neue Konstellationen, sonst drohen Stillstand und Unregierbarkeit. Die CDU müsse sich fragen, ob sie sich in Richtung der Linkspartei öffnet, sagte der Politikwissenschaftler Oliver Lembcke der Deutschen Presse-Agentur in Erfurt. Dann allerdings werde auch die Debatte über die Brandmauer zur AfD wieder beginnen.
Sollten zwei oder mehr sehr unterschiedliche Parteien miteinander arbeiten, wird interessant zu sehen, ob das pragmatischer geht als bei der Ampel in Berlin. Die stand am Wahlabend vor den Trümmern ihrer Selbstblockade: SPD einstellig, Grüne an der Fünf-Prozent-Hürde, FDP verschwunden. Einen Absturz erlebte auch die Linke, selbst wenn Bundesgeschäftsführerin Katina Schubert am Sonntagabend tapfer behauptete, ihre Partei sei «auf keinen Fall» tot.
Für den Experten Lembcke sind die beiden Landtagswahlen eine «Zäsur»: «Diese Wahl war eine Wutwahl gegen eine westdeutsch geprägte Parteienlandschaft und gegen die Ampel.» Vieles scheint in Bewegung.
2. Die AfD könnte blockieren
Die AfD ist in Thüringen Nummer eins und will als Wahlsieger mitregieren. Auch in Sachsen hat sie mit mehr als 30 Prozent ein Rekordergebnis. Nur will niemand mit der von Verfassungsschützern in den beiden Ländern als gesichert rechtsextrem eingestuften AfD koalieren. Die Partei sieht darin eine «Ignoranz des Wählerwillens», wie Bundeschefin Alice Weidel sagte. Thüringens AfD-Landeschef Björn Höcke meinte: «Man wird an uns nicht vorbei kommen, wenn man stabile Verhältnisse für Thüringen will. Ohne die AfD einzubinden, gibt es keine Stabilität für Thüringen.»
Als Hebel hat die AfD in Thüringen erstmals eine sogenannte Sperrminorität in der Hand. Da sie mehr als ein Drittel der Mandate im Landtag bekommt, kann sie Entscheidungen blockieren, für die eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig wären, etwa die Wahl von Verfassungsrichtern oder die Spitze des Landesrechnungshofs.
Höcke wehrte die Frage, ob die AfD blockieren werde, am Sonntagabend ab. Er wolle lieber von einer «Gestaltungsminorität» sprechen, und man wolle dies «auf keinen Fall missbrauchen», sagte der AfD-Spitzenmann. In Sachsen verpasste die AfD eine Sperrminorität knapp.
3. Populismus zahlt sich aus - oder ist es Bürgernähe?
In Thüringen und Sachsen halfen der AfD wie auch dem BSW ihre scharfen Attacken gegen die etablierten Parteien. Sie werfen ihnen vor, Politik gegen «die Menschen» zu machen - und versprechen einen Neuanfang. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer punktete ebenfalls mit Distanz zu Berlin - in diesem Fall zur CDU-Zentrale - und schaffte es, seinen Stimmenanteil im Wesentlichen zu halten.
So warb Kretschmer für ein «Einfrieren» des Ukraine-Kriegs sowie für eine Obergrenze für Asylbewerber zu einer Zeit, als dies in der Parteizentrale nicht gut ankam. Diese im Osten so wichtigen Themen setzte auch BSW-Chefin Sahra Wagenknecht. Bequem war dabei für beide, dass eine Landesregierung dafür nicht zuständig ist.
Dem «Volk aufs Maul gucken» sei immer schon Teil der Demokratie gewesen, sagte der Dresdner Politologe Hans Vorländer kürzlich in einem ARD-Podcast. Gefährlich werde Populismus dann, wenn demokratische Institutionen infrage gestellt würden. Diese feine Linie werden wohl noch andere Politiker als Erfolgsrezept testen. Immerhin: Die Wahlbeteiligung war in beiden Ländern deutlich höher als 2019. Knapp drei von vier Wahlberechtigten stimmten ab.
4. Demonstrationen haben die AfD nicht gestoppt
Noch kurz vor der Wahl gingen in Dresden und Erfurt Tausende Menschen gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Am Sonntagabend zogen rund 400 Menschen vor den Erfurter Landtag, um gegen das Erstarken der AfD zu protestieren. Solche Demonstrationen gab es seit Januar, seit den Enthüllungen des Medienhauses «Correctiv» über ein Treffen rechter Kräfte mit AfD-Politikern in Potsdam.
Gestoppt haben diese Proteste die AfD nicht, ebenso wenig die Warnungen von Kirchen oder Wirtschaftsverbänden. Die Partei kam in Thüringen und Sachsen auf Rekordwerte, auch wenn die möglicherweise etwas niedriger ausfielen als ohne die Gegendemonstranten.
Die Polarisierung zwischen AfD-Anhängern und ihren Gegnern scheint zementiert. AfD-Spitzenkandidat Höcke musste seinen Anhängern beim Wahlkampfabschluss in Erfurt nur einige Stichworte zuwerfen, darunter «Gender-Gaga» oder «Lastenrad», schon gingen die Emotionen hoch. Wie beide Seiten wieder ins Gespräch kommen? Unklar.
5. Die eigentliche Bewährungsprobe für die SPD ist Brandenburg
In knapp drei Wochen, am 22. September, wird in Brandenburg gewählt. Dabei könnten sich die politische Unsicherheit in Thüringen und Sachsen auswirken - womöglich ziehen Wählerinnen und Wähler den Schluss, dass etwas mehr Stabilität wünschenswert wäre. Von zentraler Bedeutung ist diese dritte ostdeutsche Landtagswahl aber für die Kanzlerpartei SPD, denn anders als in Thüringen und Sachsen verteidigt sie in Brandenburg das Amt von Ministerpräsident Dietmar Woidke.
Geht das schief, dürfte in der SPD eine weitere Grundsatzdebatte anstehen, womöglich auch über Bundeskanzler Olaf Scholz. SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert deutete das am jetzigen Wahlabend schon mal an. Der Kanzler sei der Kopf der Regierung, er werde am meisten identifiziert mit dem, wie man sich aus Berlin regiert fühle, sagte Kühnert im ZDF. «Da habe ich viele Menschen in den beiden Ländern getroffen, die da eher Unzufriedenheit haben.»