Tarifautonomie unter Druck: Gerichte verschärfen Kontrolle von Lohnstrukturen
29.12.2025 - 14:42:12Die deutsche Tarifautonomie steht vor einem historischen Umbruch. Zwei Grundsatzurteile des Bundesarbeitsgerichts und die bevorstehende EU-Transparenzrichtlinie zwingen Unternehmen zum Handeln.
Kurz vor Jahresende 2025 zeichnet sich eine Zeitenwende im Arbeitsrecht ab. Während die Bundesregierung den Referentenentwurf zur Umsetzung der EU-Entgelttransparenzrichtlinie für Anfang 2026 vorbereitet, haben zwei Urteile des Bundesarbeitsgerichts (BAG) die Spielregeln bereits jetzt verschärft. Die traditionelle „Vermutung der Angemessenheit“ für Tarifverträge bröckelt.
Rechtsexperten sprechen von einem „perfekten Sturm“ für die Tarifparteien. Die Gerichte weiten die Inhaltskontrolle von Vergütungsstrukturen massiv aus. Damit steht das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft unter nie dagewesener Beobachtung.
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November-Urteil: Ende der Nachbesserungsfrist
Das wegweisende Urteil vom 13. November 2025 (Az. 6 AZR 131/25) entzog den Tarifparteien die „primäre Korrekturkompetenz“. Bislang konnten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände diskriminierende Klauseln nachträglich anpassen.
Doch das BAG urteilte: Bei Verstößen gegen EU-Diskriminierungsverbote sind ungünstige Regelungen sofort unwirksam. Betroffene Arbeitnehmer haben unmittelbaren Anspruch auf die günstigere Behandlung. „Das entfernt das entscheidende Sicherheitsnetz für Arbeitgeber“, analysieren Experten der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner.
Die Konsequenz? Unternehmen haften sofort für „Anpassung nach oben“. Sie müssen benachteiligte Gruppen unverzüglich auf das höhere Gehaltsniveau heben – ohne Wartezeit auf Tarifverhandlungen.
Oktober-Entscheidung: Ein Vergleich reicht aus
Bereits am 23. Oktober 2025 (Az. 8 AZR 300/24) senkte das BAG die Beweislast für Arbeitnehmer dramatisch. Eine einzelne besser bezahlte Vergleichsperson genügt nun, um die Vermutung einer Diskriminierung auszulösen.
Diese „Single-Comparator“-Entscheidung hat weitreichende Folgen. Selbst Ausreißer in außertariflichen Verträgen oder speziellen Tarifgruppierungen können jetzt das gesamte Vergütungssystem angreifbar machen. Unternehmen müssen ihre Gehaltsstrukturen dringend auf solche Einzelfälle überprüfen.
Die Kombination aus dieser Rechtsprechung und den ab Juni 2026 geltenden Transparenzrechten könnte eine Klagewelle auslösen. Denn künftig werden Beschäftigte leichter herausfinden, wer wie viel verdient.
EU-Richtlinie: Streit um nationale Umsetzung
Während die Gerichte die Haftungsfragen klären, läuft die politische Debatte auf Hochtouren. Die im Juli 2025 eingesetzte „Kommission zur bürokratiearmen Umsetzung“ hat ihre Beratungen abgeschlossen. Das Bundesfamilienministerium finalisiert den Referentenentwurf.
Drei Konfliktpunkte dominieren die Diskussion:
- „Gleichwertige Arbeit“: Arbeitgeberverbände (BDA) wollen eine restriktive Definition, die Tarifklassifikationen schützt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert dagegen unternehmensübergreifende Vergleichsmöglichkeiten.
- Gemeinsame Entgeltprüfungen: Bei einer unerklärten Lohnlücke von über 5% sind diese für Betriebe mit mehr als 100 Beschäftigten Pflicht. Die Frage: Reicht der Verweis auf eine Tarifgruppe noch als „sachliche Rechtfertigung“? Die BAG-Urteile legen nahe: Nein.
- Entschädigungen: Die Richtlinie verlangt vollen Schadensersatz. Der Entwurf soll rückwirkende Nachzahlungen ohne Obergrenze vorsehen – ein erhebliches finanzielles Risiko für Unternehmen.
Sozialpartner im Zwist: Bürokratie vs. Gerechtigkeit
Die Stimmung in der Wirtschaft ist angespannt. Der BDA warnt vor einem „Bürokratiemonster“, das die Wettbewerbsfähigkeit gefährde. Die Tarifautonomie dürfe nicht durch staatliche Eingriffe ausgehöhlt werden.
Der DGB hingegen begrüßt die Entwicklung. Der unbereinigte Gender Pay Gap von rund 16-17% zeige, dass freiwillige Maßnahmen und das Entgelttransparenzgesetz von 2017 gescheitert seien. „Tarifverträge dürfen kein Schutzschild für strukturelle Diskriminierung sein“, so die Gewerkschaftsposition.
Drei Sofortmaßnahmen für 2026
Das „Abwarten“ ist keine Option mehr. Personalabteilungen sollten jetzt handeln:
- Interne Prüfung der Entgeltgleichheit: Nutzen Sie den „Single-Comparator“-Standard, um Gehaltsabweichungen zu identifizieren und zu rechtfertigen.
- Überprüfung der Tarifklassifikationen: Stellen Sie sicher, dass Arbeitsbewertungen geschlechtsneutral konzipiert und angewendet werden.
- Vorbereitung auf Transparenz: Bis Juni 2026 müssen Systeme bereitstehen, die Durchschnittsgehälter auf Anfrage korrekt ausweisen können.
Die Botschaft der Gerichte zum Jahresende ist deutlich: Die Zeit des Vertrauensvorschusses für Tarifverträge bei Diskriminierungsfragen ist vorbei. 2026 wird das Jahr der Transparenz – und Unternehmen müssen ihre Gehaltsstrukturen vor Gericht verteidigen können.
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