Probezeit, Präventionspflicht

Probezeit: Keine Präventionspflicht bei Schwerbehinderten

02.12.2025 - 23:30:12

Der Bundesverband der Integrationsämter schafft Klarheit: Arbeitgeber müssen während der Wartezeit kein Präventionsverfahren durchführen. Die Praxis folgt damit dem wegweisenden Urteil des Bundesarbeitsgerichts.

Die rechtliche Unsicherheit hat ein Ende. Der Bundesverband der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) veröffentlichte heute eine wegweisende Handreichung, die ein jahrelanges Dilemma für Personalabteilungen und Betriebsräte löst. Das Fazit: Während der sechsmonatigen Wartezeit nach § 1 Abs. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) entfällt die Pflicht zum Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX – selbst bei schwerbehinderten Beschäftigten.

Diese administrative Leitlinie setzt die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom April 2025 endgültig in die Praxis um. Damit ist der Streit beigelegt, der seit 2024 zwischen Arbeitsgerichten, Arbeitgebern und Interessenvertretungen tobte.

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Die heute veröffentlichte BIH-Stellungnahme folgt konsequent der restriktiven Auslegung des Bundesarbeitsgerichts. “Vor einer ordentlichen Kündigung innerhalb der sechsmonatigen Wartezeit muss der Arbeitgeber kein Präventionsverfahren einleiten”, heißt es in der Handreichung. “Diese Verpflichtung greift erst, wenn das Kündigungsschutzgesetz zeitlich und sachlich anwendbar ist.”

Was bedeutet das konkret für die Bürger? Schwerbehinderte Arbeitnehmer genießen vom ersten Tag an Diskriminierungsschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Das formale Präventionsverfahren – ein mehrstufiges Verfahren unter Einbindung von Betriebsrat, Schwerbehindertenvertretung und Integrationsamt – muss jedoch erst nach Ablauf der Probezeit durchgeführt werden.

Die praktische Relevanz ist enorm: Bis zu dieser Klarstellung agierten Unternehmen in einer Grauzone. Verschiedene Landesarbeitsgerichte urteilten widersprüchlich, was die “Kölner Linie” des LAG Köln vom September 2024 verdeutlichte. Jenes Gericht hatte argumentiert, die Präventionspflicht bestehe unabhängig von der Wartezeit.

Rückblick: Das wegweisende BAG-Urteil 2 AZR 178/24

Der juristische Grundstein wurde am 3. April 2025 gelegt. Das Bundesarbeitsgericht entschied in jenem Verfahren über die Kündigung eines schwerbehinderten Betriebsleiters, der nach drei Monaten entlassen worden war. Der Kläger argumentierte, die Kündigung sei mangels Präventionsverfahren unwirksam.

Die Erfurter Richter widersprachen eindeutig. Ihre Argumentation: § 167 SGB IX sei untrennbar mit dem allgemeinen Kündigungsschutz verknüpft. Da dieser erst nach sechs Monaten greife, könne auch die Präventionspflicht nicht früher einsetzen.

Zentrale Botschaft des Gerichts: Das Präventionsverfahren ist keine formale Wirksamkeitsvoraussetzung während der Wartezeit. Die Probezeit behält ihre ursprüngliche Funktion – die Eignung des Mitarbeiters zu testen.

Was Betriebsräte und Arbeitgeber jetzt beachten müssen

Mit der heutigen BIH-Klarstellung verschiebt sich das rechtliche Spielfeld deutlich. Drei Kernpunkte prägen die neue Realität:

Verfahrensfreiheit in den ersten sechs Monaten

Personalverantwortliche können Kündigungen innerhalb der Probezeit ohne formales § 167-Verfahren aussprechen. Das reduziert den bürokratischen Aufwand erheblich und beseitigt eine Einstellungshürde, die Arbeitgeber lange vom Recruiting Schwerbehinderter abhielt.

Materielle Schutzpflicht bleibt bestehen

Doch Vorsicht: Die verfahrensrechtliche Erleichterung ist kein Freibrief zur Diskriminierung. Die Pflicht zur angemessenen Vorkehrung nach § 164 Abs. 4 SGB IX gilt vom ersten Arbeitstag an. Scheitert ein schwerbehinderter Mitarbeiter an Aufgaben, die durch technische Hilfsmittel oder organisatorische Anpassungen lösbar gewesen wären, bleibt die Kündigung angreifbar.

“Das BAG und der BIH sagen klar: Verfahrensfreiheit ist keine Lizenz zur Benachteiligung”, betont die Handreichung. Arbeitgeber müssen nachweisen, dass die Entscheidung auf objektiver Nichteignung basierte – nicht auf der Behinderung selbst.

Reaktionen aus Wirtschaft und Sozialverbänden

Arbeitgeberverbände begrüßten die BIH-Stellungnahme mit Erleichterung. “Die heutige Klarstellung beseitigt eine erhebliche Einstellungsbremse”, kommentierten Branchenbeobachter. Wenn Unternehmen befürchteten, jedes Probezeitarbeitsverhältnis nur mit aufwendigen Mehrparteienverfahren beenden zu können, schreckten sie vom Einstellen behinderter Bewerber zurück. Die Rechtssicherheit helfe beiden Seiten.

Behindertenrechtsverbände äußerten dagegen Bedenken. Die Abschaffung der Präventionspflicht schwäche das Frühwarnsystem, das oft Arbeitsplätze rette. Ihre Forderung: Schwerbehindertenvertretungen (SBV) müssten proaktiver agieren.

“Die SBV kann nicht mehr auf eine formale Einladung zum Präventionsverfahren warten”, warnt ein arbeitsrechtlicher Kommentar. “Vertreter müssen in den ersten sechs Monaten selbst aktiv werden und bei ersten Schwierigkeiten sofort auf betroffene Kollegen und Vorgesetzte zugehen.”

Blick nach vorne: Klagenwelle verlagert sich

Rechtsexperten erwarten 2026 eine Verschiebung der Prozesslandschaft. Statt verfahrensrechtlicher Fehler (fehlende Präventionsgespräche) werden materielle Diskriminierungsvorwürfe (fehlende angemessene Vorkehrungen) in den Fokus rücken. Mit dem prozeduralen Weg versperrt – bestätigt durch BAG und BIH – wird sich zeigen müssen, ob Arbeitgeber wirklich alles Zumutbare unternahmen, bevor sie kündigten.

Die “Wartezeit-Lücke” ist seit heute offiziell geschlossen. Die ersten sechs Monate bleiben echte Probezeit, selbst für schwerbehinderte Beschäftigte – solange die Grundprinzipien des Diskriminierungsschutzes gewahrt bleiben.

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