KI-Verordnung: EU verschiebt Fristen unter Industriedruck
19.11.2025 - 01:40:12Die Europäische Kommission schlägt eine Fristverlängerung für Hochrisiko-KI-Anwendungen vor, nachdem Unternehmen wie Airbus und Mercedes unrealistische Zeitvorgaben kritisierten.
Brüssel knickt ein: Die Europäische Kommission will heute eine Fristverlängerung von bis zu 15 Monaten für Hochrisiko-KI-Systeme vorschlagen. Was zunächst nach Entlastung für Unternehmen klingt, offenbart einen grundlegenden Konflikt – zwischen ambitionierten Schutzzielen und der Realität rasanter technologischer Entwicklung. Kann die EU ihren Anspruch als KI-Regulierungsvorreiter aufrechterhalten, wenn schon vor der eigentlichen Anwendung nachverhandelt wird?
Die seit August 2024 gültige KI-Verordnung stuft Systeme nach Risikoklassen ein. Besonders streng sind die Auflagen für Hochrisiko-Anwendungen in Bereichen wie Gesundheit, Verkehr oder Personalwesen. Doch genau diese zentralen Bestimmungen drohen nun zeitlich nach hinten zu rutschen. Die Verzögerung ist das Ergebnis intensiver Lobbyarbeit – und wirft unbequeme Fragen nach dem Tempo europäischer Regulierung auf.
Aufschub bestätigt: 12 bis 15 Monate mehr Zeit
Die finale Entscheidung über die genaue Länge der Fristverlängerung fällt heute. Klar ist bereits: Unternehmen erhalten deutlich mehr Zeit zur Anpassung ihrer KI-Systeme an die strengen EU-Vorgaben. Interne Dokumente sprechen von einer “Gnadenfrist”, die Marktstörungen verhindern soll.
Der Vorschlag ist Teil eines umfangreicheren Anpassungspakets. Die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament stehen damit vor der Herausforderung, die Änderungen noch vor dem ursprünglich geplanten Anwendungstermin im August 2026 zu verabschieden. Ein ambitionierter Zeitplan, der zusätzlichen Druck auf die ohnehin komplexen Abstimmungsprozesse ausübt.
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Brüssel bestätigt inzwischen offiziell, dass die Verlängerung Entwicklern ermöglichen soll, “ihre Praktiken innerhalb eines angemessenen Zeitraums anzupassen”. Was nach technokratischer Routine klingt, ist tatsächlich ein Eingeständnis: Die ursprünglichen Fristen waren zu ambitioniert.
Airbus und Mercedes forderten längere Pausen
Der Druck kam nicht nur aus Silicon Valley. Europäische Schwergewichte wie Airbus und Mercedes-Benz warnten offen vor unrealistischen Zeitvorgaben. Ihre Forderung: eine Pause von bis zu zwei Jahren für eine “vernünftige Umsetzung”.
Die US-Regierung verstärkte den Druck zusätzlich. Technologieunternehmen beiderseits des Atlantiks argumentierten, zu strikte Fristen würden Innovation bremsen und europäische Firmen im globalen Wettbewerb benachteiligen. Ein nachvollziehbares Argument – oder geschicktes Lobbying, um unbequeme Regeln hihinauszuzögern?
Die Entwicklungsgeschwindigkeit generativer KI hat die Realität der Gesetzgebung überholt. Systeme, die bei der Konzeption der Verordnung noch kaum existierten, sind heute Mainstream. Die EU, die sich als Vorreiterin der KI-Regulierung positioniert, musste ihre Strategie überdenken. Bleibt die Frage: Ist das pragmatische Flexibilität oder ein Einknicken vor wirtschaftlichen Interessen?
Atempause oder verlorene Zeit?
Viele Unternehmen atmen erleichtert auf. Die Implementierung umfassender Risikomanagementsysteme, Dokumentationspflichten und technischer Aufsichtsmechanismen erfordert erhebliche Ressourcen. Mehr Zeit erscheint auf den ersten Blick sinnvoll.
Anthony Habayeb von Monitaur AI formuliert es deutlich: Die Verlängerung sei ein Eingeständnis, dass sich KI schneller entwickelt als die Steuerungsfähigkeit der Organisationen. Seine Warnung: Die zusätzliche Zeit nutzt nur, wer sie aktiv für den Aufbau interner Kontrollen verwendet – nicht für weiteres Abwarten.
Kritiker sehen die Verzögerung skeptisch. Jeder Monat ohne wirksame Regulierung von Hochrisiko-Systemen verlängert potenzielle Gefahren für Grundrechte. War das KI-Gesetz nicht gerade dafür konzipiert, solche Risiken frühzeitig einzudämmen? Die Verzögerung könnte die ursprüngliche Schutzabsicht untergraben – und Unternehmen in einem regulatorischen Schwebezustand belassen, der langfristige Planungen erschwert.
Pragmatismus statt Prinzipientreue?
Die wahrscheinliche Fristverlängerung markiert einen Wendepunkt in der EU-KI-Politik. Der grundsätzliche risikobasierte Ansatz bleibt zwar bestehen, doch die Kommission zeigt sich kompromissbereiter als erwartet. Ist das der realistische Mittelweg zwischen Bürgerschutz und Wirtschaftsförderung – oder der Anfang vom Ende ambitionierter Regulierung?
Ein praktisches Problem verschärft die Lage: Die harmonisierten technischen Standards, ohne die eine Umsetzung kaum möglich ist, hinken ebenfalls hinterher. Eine Verlängerung war damit faktisch unvermeidbar, unabhängig vom Lobbydruck.
Experten raten Unternehmen eindringlich, die gewonnene Zeit als “seltenes Geschenk” zu nutzen. Model Cards, Datensatz-Dokumentationen und Vorbereitungen auf Drittpartei-Audits sollten jetzt Priorität haben. Wer die Verlängerung als Freibrief zum Nichtstun versteht, dürfte 2027 böse erwachen.
Was Unternehmen jetzt beachten müssen
Nach der heutigen Entscheidung wandert der Vorschlag zur Debatte an die Mitgliedstaaten und das Parlament. Bei Bestätigung des 12-bis-15-Monats-Aufschubs würden zentrale Pflichten für Hochrisiko-Systeme statt im August 2026 erst Ende 2027 oder Anfang 2028 greifen.
Für bestimmte KI-Systeme in bereits regulierten Produkten galt ohnehin der 2. August 2027 als Stichtag. Doch Vorsicht: Nicht alle Fristen verschieben sich. Die Verbote für KI-Praktiken mit inakzeptablem Risiko gelten bereits seit Februar 2025. Transparenzpflichten für Chatbots und ähnliche Systeme treten planmäßig am 2. August 2025 in Kraft.
Die Klassifizierung der eigenen KI-Anwendungen sollte daher oberste Priorität haben. Welche Systeme fallen unter Hochrisiko? Welche Transparenzpflichten greifen bereits in wenigen Monaten? Unternehmen, die sich jetzt nicht vorbereiten, verspielen den gewonnenen Zeitvorteil.
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