Großkanzleien müssen Arbeitszeiten systematisch erfassen

Ein Hamburger Gericht verpflichtet internationale Top-Kanzleien zur lückenlosen Zeiterfassung – und kippt damit jahrzehntealte Branchenpraktiken. Das Urteil stellt das Geschäftsmodell der Großkanzleien fundamental infrage.

Das Verwaltungsgericht Hamburg hat in einer Grundsatzentscheidung klargestellt: Auch angestellte Rechtsanwälte in Großkanzleien unterliegen uneingeschränkt dem Arbeitszeitgesetz. Die Richter wiesen am 18. November 2025 den Einwand zurück, Anwälte seien als „unabhängige Organe der Rechtspflege“ von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung befreit. „Selbst die glänzendsten Fassaden und wichtigsten Mandate befreien nicht von den Regeln des Arbeitsschutzrechts“, so die implizite Kernaussage des Urteils (Az. 21 K 1202/25).

Auslöser waren anonyme Hinweise aus den Jahren 2020 und 2021 auf systematische Verstöße in einer internationalen Kanzlei. Beschrieben wurden Arbeitszeiten von 9 Uhr morgens bis 23 Uhr oder Mitternacht als „keine Seltenheit, sondern die Regel“. Das Hamburger Amt für Arbeitsschutz verlangte daraufhin die Einführung eines Systems zur Erfassung von Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit.

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„Abrechnungsstunden“ schützen nicht die Gesundheit

Die Kanzlei wehrte sich – und argumentierte mit der besonderen Natur anwaltlicher Tätigkeit und dem etablierten Modell der Vertrauensarbeitszeit. Das Gericht ließ diese Argumentation nicht gelten. Entscheidend war die klare Trennung zwischen Abrechnungsstunden für den Mandanten und der tatsächlichen Arbeitszeit zum Schutz der Gesundheit.

Bestehende Abrechnungssysteme erfassen laut Gericht nicht:
* Nicht abrechenbare Verwaltungsarbeit
* Interne Besprechungen und Fortbildungen
* Pausen und Ruhezeiten
* Den tatsächlichen Beginn und das Ende des Arbeitstages

Die Richter betonten: Der primäre Zweck der Zeiterfassung sei der Gesundheitsschutz, nicht die Leistungskontrolle. Auch der Versuch, Associates als leitende Angestellte einzustufen, scheiterte. Deren typische Aufgaben begründeten keine Befreiung von den Arbeitszeitregeln.

Kulturwandel in der Anwaltsbranche droht

Das Urteil könnte einen seismischen Wandel im deutschen Rechtsmarkt auslösen. Das Geschäftsmodell der Großkanzleien basiert seit Jahrzehnten auf hohen Gehältern, die extreme Flexibilität und lange Arbeitszeiten kompensieren sollen – oft geregelt durch informelle Vertrauensmodelle.

Jetzt müssen Kanzleien handeln. Die „Don’t ask, don’t tell“-Haltung zu den Arbeitszeiten ihrer Anwälte ist nach diesem Urteil rechtlich nicht mehr haltbar. Die Entscheidung ermächtigt Arbeitsschutzbehörden zu strengeren Kontrollen. Verstöße gegen die tägliche Höchstarbeitszeit von zehn Stunden oder gegen Ruhezeiten werden nun einfacher nachweisbar.

Technische und kulturelle Herausforderungen

Die Branche steht vor einer doppelten Herausforderung: Sie muss einerseits technische Systeme einführen, die Anwesenheitszeiten unabhängig von der Mandantenabrechnung erfassen. Andererseits steht ein tiefgreifender Kulturwandel an. Die unaufgezeichnete Mitternachtsschicht dürfte damit der Vergangenheit angehören.

Rechtsexperten halten eine Berufung vor dem Oberverwaltungsgericht für möglich, sehen die Begründung des Hamburger Gerichts aber im Einklang mit der jüngeren Rechtsprechung – etwa dem „Stechuhr“-Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2022. Für die vielen jungen Anwälte in den Hamburger Kanzleien könnte das Urteil den Beginn einer neuen, transparenteren Arbeitskultur markieren.

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