EuGH-Urteil: Mindestlohn-Richtlinie bleibt bestehen
20.11.2025 - 17:59:12Das Kernstück der EU-Mindestlohn-Richtlinie hat eine Klage Dänemarks überstanden – mit weitreichenden Folgen für Deutschland. Zwar kassierte der Europäische Gerichtshof (EuGH) einzelne Vorgaben zur Lohnberechnung, doch die Verpflichtung zur Stärkung der Tarifbindung bleibt bestehen. Gleichzeitig verschärft ein weiteres EuGH-Urteil die Anforderungen an Arbeitgeber im Anti-Diskriminierungsrecht erheblich.
Eine aktuelle Analyse des Hugo-Sinzheimer-Instituts der Hans-Böckler-Stiftung, die heute veröffentlicht wurde, ordnet beide Entwicklungen ein. Das Fazit der Rechtsexperten: Für deutsche Unternehmen wird 2026 zum Jahr der Anpassungen – beim Mindestlohn und bei der Fürsorgepflicht gegenüber Beschäftigten.
Am 11. November 2025 entschied der EuGH im Verfahren C-19/23 über die dänische Klage gegen die EU-Mindestlohn-Richtlinie. Das Gericht gab Kopenhagen teilweise recht: Die Artikel 5(2) und Teile von 5(3) wurden für nichtig erklärt. Diese Passagen hätten vorgeschrieben, nach welchen konkreten Kriterien – etwa Kaufkraft oder Lohnverteilung – Mitgliedstaaten ihre Mindestlöhne festlegen müssen.
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Die Richter urteilten: Solche detaillierten Vorgaben überschreiten die EU-Kompetenz. Artikel 153(5) des EU-Vertrags schließt direkte Eingriffe in die Lohnhöhe ausdrücklich aus.
Doch das war es auch schon mit dem dänischen Erfolg. Die Kernverpflichtung der Richtlinie bleibt unangetastet: Länder mit einer Tarifbindungsquote unter 80 Prozent müssen einen Aktionsplan zur Stärkung der Tarifverträge vorlegen. Deutschland liegt derzeit bei gerade einmal 49 Prozent – weit entfernt vom EU-Ziel.
Wie Ernesto Klengel, Direktor des Hugo-Sinzheimer-Instituts, und die Arbeitsrechtsprofessorin Christina Hiessl betonen, sendet das Urteil ein klares Signal: Brüssel darf zwar keine Löhne diktieren, sehr wohl aber den sozialen Rahmen gestalten.
14,60 Euro bis 2027: Deutschlands Mindestlohn steigt
Parallel zum EuGH-Urteil stehen in Deutschland bereits die nächsten Mindestlohn-Erhöhungen fest. Das Bundeskabinett hat auf Empfehlung der Mindestlohnkommission vom Juni 2025 zwei Anhebungen beschlossen:
- 1. Januar 2026: Erhöhung auf 13,90 Euro pro Stunde
- 1. Januar 2027: Weiterer Anstieg auf 14,60 Euro pro Stunde
Das EuGH-Urteil ändert daran nichts. Die deutsche Mindestlohnkommission arbeitet ohnehin nach nationalen Vorgaben, die bereits ähnliche Kriterien wie Tarifentwicklung berücksichtigen. Das Mindestlohngesetz bleibt von der Teilannullierung unberührt.
Die eigentliche Herausforderung liegt woanders: Wie bringt Berlin die Tarifbindung von 49 auf 80 Prozent? Der geforderte Aktionsplan könnte künftig Tariftreue zur Bedingung für öffentliche Aufträge machen oder branchenweite Mindeststandards vorschreiben. Für Unternehmen bedeutet das: Der Druck zur Tarifbindung wächst – ob sie wollen oder nicht.
“Assoziierte Diskriminierung”: Neue Pflichten für Arbeitgeber
Neben der Lohnpolitik sorgt ein weiteres EuGH-Urteil für Bewegung im deutschen Arbeitsrecht. Im Fall Bervidi (C-38/24) entschied das Gericht am 11. September 2025: Der Diskriminierungsschutz gilt auch für Beschäftigte, die behinderte Familienangehörige pflegen.
Diese sogenannte “assoziierte Diskriminierung” erweitert die Reichweite der EU-Gleichbehandlungsrichtlinie (2000/78/EG) erheblich. Konkret heißt das: Arbeitgeber müssen auch pflegenden Angehörigen “angemessene Vorkehrungen” wie flexible Arbeitszeiten oder angepasste Aufgaben gewähren – nicht nur den behinderten Beschäftigten selbst.
Klengel und Hiessl sprechen von einer “Schließung einer erheblichen Schutzlücke”. Für Personalabteilungen bedeutet das: Wer einem Mitarbeiter flexible Arbeitszeiten verweigert, weil dieser ein behindertes Kind pflegt, riskiert eine Klage wegen direkter Diskriminierung.
Die Rechtslage ändert sich damit grundlegend. Was bisher als Kulanz galt, wird nun zur Rechtspflicht. Unternehmen sind gut beraten, ihre internen Richtlinien umgehend anzupassen und Anträge von Pflegenden genauso sorgfältig zu prüfen wie die von Menschen mit Behinderung.
Doppelter Druck auf Unternehmen
Für deutsche Arbeitgeber verdichten sich die Anforderungen: Einerseits stehen binnen zwei Jahren Lohnsteigerungen von knapp zwei Euro beim Mindestlohn an. Andererseits verschärft sich die Rechtslage bei Arbeitszeitregelungen und Fürsorgepflichten.
Das Bervidi-Urteil erfordert sofortiges Handeln. HR-Abteilungen sollten bestehende Prozesse zur Prüfung von Arbeitsplatzanpassungen überarbeiten. Die bisherige Praxis, Flexibilisierungswünsche von Pflegenden nach Gutdünken zu behandeln, birgt nun erhebliche Haftungsrisiken.
Gleichzeitig dürfte Berlin in den kommenden Monaten Maßnahmen vorlegen, um die Tarifbindung zu erhöhen. Ob über verschärfte Vergaberichtlinien, branchenspezifische Mindeststandards oder Anreize für Tarifverträge – die Richtung ist klar: Mehr Tarifbindung wird zur politischen Priorität.
Die Verzahnung zwischen europäischem Sozialrecht und nationaler Lohnpolitik wird enger. Unternehmen und Gesetzgeber müssen sich auf weitere Anpassungen einstellen. Das EuGH-Urteil mag einzelne Bestimmungen gekippt haben – am grundsätzlichen Kurs der EU ändert das nichts.
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