EuGH-Urteil, Fahrzeiten

EuGH-Urteil: Fahrzeiten sind Arbeitszeit – auch für Beifahrer

26.11.2025 - 17:21:12

Deutsche Arbeitgeber müssen umdenken: Ein wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs stellt die bisherige Praxis zur Erfassung von Reisezeiten infrage. Wer im Firmenfahrzeug mitfährt, arbeitet – rechtlich gesehen.

Die Entscheidung des EuGH vom 9. Oktober 2025 (Rechtssache C-110/24) sorgt derzeit in deutschen Personalabteilungen für hektische Aktivität. Was zunächst wie eine technische Klarstellung wirkt, könnte weitreichende Folgen für Tausende Unternehmen haben. Denn das Gericht räumt auf mit einer verbreiteten Annahme: Passive Mitfahrt im Dienstwagen ist keine Ruhezeit.

Ausgangspunkt war ein spanischer Rechtsstreit um Mitarbeiter der Naturschutzverwaltung. Ihr Arbeitsalltag folgt einem in Deutschland vertrauten Muster: Morgens treffen sie sich an einem zentralen Stützpunkt, holen Fahrzeug und Ausrüstung ab und fahren gemeinsam zu wechselnden Einsatzorten. Einer steuert, die anderen sitzen als Beifahrer im Wagen.

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Der Arbeitgeber wertete nur die Fahrzeit des Lenkers als Arbeitszeit. Die Rückfahrt der Mitfahrer vom Einsatzort zum Stützpunkt? Sollte nicht zählen. Eine Position, die der EuGH nun kassiert hat.

Die Luxemburger Richter argumentieren glasklar: Während dieser Fahrten können die Beschäftigten nicht frei über ihre Zeit verfügen. Sie befinden sich unter Weisungsgewalt des Arbeitgebers, folgen vorgegebenen Routen und Zeitplänen. Drei entscheidende Kriterien sprechen für Arbeitszeit:

  • Räumliche Bindung: Der Mitarbeiter muss sich am vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufhalten – dem Fahrzeug
  • Weisungsgebundenheit: Route, Zeitplan und Transportmittel sind vorgegeben
  • Fehlende Autonomie: Die Zeit lässt sich nicht frei gestalten

Wie die juristische Fachzeitschrift LTO am 24. November analysierte: “Fahrten nach Weisung und mit Fahrzeugen des Arbeitgebers müssen auch für Beifahrer als Arbeitszeit bewertet werden.”

Abschied von der deutschen Belastungstheorie?

Besonders brisant wird das Urteil für deutsche Unternehmen durch den Konflikt mit etablierter Rechtsprechung. Das Bundesarbeitsgericht wandte bisher oft die sogenannte Belastungstheorie an: Aktives Fahren bedeutet hohe Belastung – also Arbeitszeit. Passives Mitfahren gilt als geringe Belastung – und damit potenziell als Ruhezeit.

Der EuGH wischt diese Unterscheidung vom Tisch. Die Intensität der Tätigkeit spielt für die Definition von Arbeitszeit nach EU-Recht keine Rolle. Entscheidend ist allein: Steht der Arbeitnehmer zur Verfügung des Arbeitgebers oder nicht?

Diese Klarstellung dürfte in Branchen wie dem Baugewerbe, Handwerk oder technischen Außendienst erhebliche Auswirkungen haben. Das Modell der “Sammelbeförderung” – gemeinsame Abfahrt vom Betriebshof zur Baustelle – ist dort weit verbreitet.

Arbeitszeit ist nicht gleich Bezahlung

Eine wichtige Unterscheidung betonen Arbeitsrechtsexperten in dieser Woche besonders: Das EuGH-Urteil betrifft zunächst die Arbeitszeiterfassung zum Gesundheitsschutz, nicht automatisch die Vergütung.

Arbeitszeitrecht: Arbeitgeber müssen die Beifahrerzeiten dokumentieren, um sicherzustellen, dass Beschäftigte die tägliche Höchstarbeitszeit von zehn Stunden nicht überschreiten und die elfstündige Ruhezeit einhalten.

Vergütungsrecht: Ob diese Stunden zum vollen Stundensatz bezahlt werden müssen, regeln weiterhin Arbeitsverträge, Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen. Hier bleibt nationales Recht maßgeblich.

Allerdings warnen Juristen: In der Praxis verschwimmen beide Bereiche häufig. Wie Anwalt.de am 26. November analysierte, könnte die rechtliche Einstufung als Arbeitszeit mittelfristig auch Vergütungsansprüche stärken – besonders wenn Betriebsräte nachverhandeln.

Was Personalabteilungen jetzt tun müssen

Für deutsche HR-Manager bedeutet das Urteil konkreten Handlungsbedarf. Wer bisher Fahrten im Firmenfahrzeug nicht oder nur teilweise erfasst hat, riskiert Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz.

Dringende Maßnahmen:

  • Zeiterfassungssysteme aktualisieren: Auch Beifahrerzeiten müssen als Arbeitszeit dokumentiert werden
  • Schichtplanung überdenken: Lange Anfahrtswege könnten Mitarbeiter nun über die gesetzlichen Tagesgrenzen treiben
  • Verträge prüfen: Klärungsbedarf besteht bei der Frage, wie die neu definierte Arbeitszeit vergütet wird

Besonders in Branchen mit großflächigen Einsatzgebieten – etwa im Anlagenbau, der Energieversorgung oder bei Servicetechnikern – könnten aufwendige Umplanungen nötig werden. Wer täglich 90 Minuten Anfahrt hat, dem bleiben von der Zehn-Stunden-Grenze nur noch 8,5 Stunden für die eigentliche Arbeit vor Ort.

Betriebsräte werden aktiv

Gewerkschaftsnahe Arbeitsrechtler erwarten, dass Betriebsräte das Urteil nutzen werden, um strengere Einhaltung der Höchstarbeitszeiten einzufordern. Die Zeiten, in denen die Rückbank des Firmenwagens als “Freizeit” galt, sind jedenfalls vorbei.

Zwar hat sich das Bundesarbeitsgericht bereits in früheren Urteilen – insbesondere der Tyco-Entscheidung von 2015 (C-266/14) – an die EuGH-Rechtsprechung angenähert. Doch die aktuelle Klarstellung schließt nun auch die letzten Lücken bei “passiven” Beifahrern.

Unternehmen mit großen Außendienstteams sollten nicht abwarten, bis die ersten arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen vor Gericht landen. Die Anpassung der Zeiterfassungs- und Vergütungssysteme an die europarechtlichen Vorgaben ist keine Option mehr – sie ist Pflicht.

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