EuGH-Urteil, Haftungsprivileg

EuGH-Urteil beendet Haftungsprivileg für Online-Marktplätze

22.12.2025 - 17:00:12

Düsseldorf/Luxemburg – Ein wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) stellt die Geschäftsmodelle von Online-Marktplätzen und Plattformen in der EU auf den Kopf. Aktuelle Analysen von Datenschutzexperten zeigen: Die Ära des passiven „Hostens“ ist vorbei. Betreiber müssen künftig als gemeinsame Verantwortliche für nutzergenerierte Inhalte haften – mit drastischen Folgen für Compliance und Betrieb.

Drei Wochen nach der Verkündung des Urteils in der Rechtssache C-492/23 („Russmedia“) wird das volle Ausmaß deutlich. Der Richterspruch hebelt das bisherige „Providerprivileg“ im Datenschutz faktisch aus. Plattformen, die Einfluss auf die Veröffentlichung von Inhalten nehmen, können sich nicht mehr hinter ihrer neutralen Rolle verstecken.

Im Zentrum steht eine klare Botschaft des EuGH: Das bloße Löschen rechtswidriger Inhalte nach einer Meldung genügt nicht mehr. Plattformen müssen proaktiv werden. Das berichtet das Fachportal Datenschutz Notizen in einer aktuellen Analyse. Der Fall selbst stammt aus Rumänien. Auf der Plattform der Russmedia Digital SRL war 2018 eine gefälschte Anzeige mit persönlichen Daten einer Frau erschienen. Obwohl das Unternehmen die Anzeige nach Kenntnis löschte, gewann die Betroffene vor dem EuGH.

Was bedeutet das konkret? Die Kanzlei VISCHER spricht in ihrer Einordnung vom „Ende des Haftungsprivilegs für Hosting-Provider“. Entscheidend ist die neue Definition der gemeinsamen Verantwortlichkeit nach Artikel 26 der DSGVO. Ein Betreiber wird zum Verantwortlichen, wenn er „maßgeblichen Einfluss“ auf die Datenverarbeitung nimmt.

Anzeige

Passend zum Thema präventive Prüfpflicht und KI-gestützte Filter: Seit 1. August 2024 gelten neue Regeln zur KI-Nutzung in der EU – viele Plattformbetreiber wissen nicht, was das für ihre Prozesse bedeutet. Unser kostenloses E-Book zur EU-KI-Verordnung erklärt in einem kompakten Umsetzungsleitfaden, welche Kennzeichnungspflichten, Risikoklassen und Dokumentationsanforderungen jetzt gelten. Zudem erhalten Sie praktische Schritte für Echtzeit-Filter und eine Compliance-Checkliste. Jetzt KI-Leitfaden herunterladen

Drei Kriterien für die Haftungsfalle

Der EuGH hat klare Kriterien für diesen Einfluss definiert, die für alle Plattformen relevant sind:
* Strukturierung der Daten: Die Plattform gibt Kategorien und Parameter für Anzeigen oder Beiträge vor.
* Kommerzielles Eigeninteresse: Die Nutzerdaten dienen auch dem eigenen Geschäftsmodell, etwa durch Werbung oder Promotion.
* Weitreichende Nutzungsrechte: Enthalten die AGB Klauseln, die dem Betreiber umfassende Rechte an den Inhalten einräumen, steigt das Haftungsrisiko erheblich.

„Wer die Parameter für die Veröffentlichung setzt, trägt auch die Verantwortung für die Folgen“, lautet die einfache, aber folgenschwere Logik des Gerichts. Diese gilt selbst dann, wenn der Betreiber von einem konkreten Verstoß nichts wusste.

Pflicht zur präventiven Filterung sensibler Daten

Die praktischen Konsequenzen sind enorm. Da es im Ausgangsfall um besonders schützenswerte Daten zum Sexualleben ging, leitet der EuGH eine präventive Prüfpflicht ab. Plattformen müssen nun technische und organisatorische Maßnahmen ergreifen, um sensible Daten vor der Veröffentlichung zu erkennen.

Konkret bedeutet das:
1. Erkennung sensibler Daten: Anzeigen und Beiträge müssen automatisiert auf Telefonnummern, Gesichter oder Begriffe aus besonderen Kategorien (wie Gesundheit, Sexualleben, politische Meinung) geprüft werden.
2. Identitätsverifikation: Es muss sichergestellt werden, dass die abgebildete oder benannte Person tatsächlich der Inserent ist oder eingewilligt hat.
3. Verhinderung von Kopien: Technische Vorkehrungen müssen das einfache „Absaugen“ und Weiterverbreiten der Daten von der Plattform erschweren.

Diese Anforderungen stellen das Geschäftsmodell offener Marktplätze, die auf schnelle und anonyme Inserate setzen, fundamental infrage. Könnten Kleinanzeigen-Portale, wie sie in Deutschland populär sind, in ihrer bisherigen Form überhaupt weiterbestehen?

Experten warnen vor Kostenexplosion und „Overblocking“

Die Reaktionen aus Wirtschaft und Rechtsberatung sind alarmiert. Die notwendigen KI-gestützten Filter und manuellen Verifikationsprozesse werden massive Kosten verursachen. Für kleinere Plattformen könnte dies existenzbedrohend sein. Sie müssten anonyme Inserate vielleicht ganz verbieten oder ihren Betrieb einstellen.

Zudem droht die Gefahr des „Overblocking“. Um jedes Haftungsrisiko auszuschließen, könnten Plattformen künftig vorsorglich alle Beiträge blockieren, die auch nur ansatzweise sensible Andeutungen enthalten. Das würde die Meinungsfreiheit und den offenen Handel im Internet erheblich einschränken.

Ein weiterer kritischer Punkt: Der EuGH stellt klar, dass der neue Digital Services Act (DSA) nicht vor Datenschutzklagen schützt. Die vermeintlich sichere Hafenregelung des DSA wird durch die strenge Linie der DSGVO durchbrochen. Für Unternehmen bedeutet das eine doppelte Regulierungslast.

Was deutsche und österreichische Unternehmen jetzt tun müssen

Für Plattformbetreiber im DACH-Raum besteht akuter Handlungsbedarf. Datenschutzexperten raten dringend zu einer umfassenden Überprüfung. Die wichtigsten Schritte:

  • AGB-Check: Klauseln, die dem Betreiber zu weitreichende Nutzungsrechte an User-Inhalten einräumen, sollten gestrichen oder entschärft werden. Sie sind ein Hauptindiz für die Haftung als Verantwortlicher.
  • Technische Nachrüstung: Die Einführung von Echtzeit-Filtern zur Erkennung sensibler Daten ist unumgänglich. KI-Systeme müssen Telefonnummern, Gesichter und Schlüsselbegriffe identifizieren können.
  • Prozessanpassung: Für sensible Kategorien wie Wohnungs- oder Jobanzeigen müssen Verifikationsschritte wie SMS-Bestätigungen oder ID-Checks vor der Freischaltung eingeführt werden.

Das EuGH-Urteil markiert eine Zäsur für die digitale Wirtschaft in Europa. Die Zeit, in der sich Plattformen als neutrale technische Vermittler sahen, ist im Datenschutzrecht endgültig vorbei. Die Verantwortung für das, was Nutzer online stellen, liegt künftig auch bei denen, die die Bühne dafür bereitstellen.

PS: Viele Unternehmen unterschätzen die Auswirkungen der EU-KI-Verordnung auf KI-gestützte Prüfprozesse und Verifikationsketten. Übergangsfristen, Risikoklassifizierung und Nachweispflichten erfordern jetzt kurzfristige Maßnahmen, sonst drohen rechtliche und betriebliche Risiken. Dieses kostenlose E-Book fasst die relevanten Anforderungen zusammen und bietet sofort umsetzbare Checklisten für Entwickler, Betreiber und Datenschutzverantwortliche. Kostenlosen KI-Umsetzungsleitfaden sichern

@ boerse-global.de