Entgelttransparenz, Betriebsräte

Entgelttransparenz: Betriebsräte erhalten Schlüsselrolle bei Lohnprüfungen

21.11.2025 - 14:40:12

Deutsche Unternehmen ab 100 Mitarbeitern müssen ab Juni 2026 geschlechtsspezifische Gehaltsunterschiede offenlegen. Betriebsräte werden bei Lohnlücken über 5 Prozent in Prüfverfahren eingebunden.

Die Bundesregierung hat ihre Strategie zur Umsetzung der EU-Entgelttransparenz-Richtlinie vorgelegt. Der Abschlussbericht der Expertenkommission, der Bundesministerin Karin Prien Anfang November übergeben wurde, definiert die neuen Spielregeln für Unternehmen und Betriebsräte – und die Zeit wird knapp.

Bis zum 7. Juni 2026 muss Deutschland die EU-Vorgaben in nationales Recht umsetzen. Was bedeutet das konkret? Für tausende Betriebe beginnt eine neue Ära der Lohntransparenz. Die Kernfrage lautete: Wie lässt sich die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen schließen, ohne Unternehmen mit bürokratischen Hürden zu überfordern?

100-Mitarbeiter-Grenze bleibt – trotz Industrie-Protest

Die unabhängige Expertenkommission, die im Juli 2025 ihre Arbeit aufnahm, hatte einen klaren Auftrag: Transparenz schaffen, aber den Mittelstand nicht ersticken. Das Ergebnis? Die Kommission empfiehlt die strikte Anwendung der EU-Schwelle von 100 Beschäftigten.

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Alle Unternehmen ab dieser Größe müssen künftig ihre geschlechtsspezifische Lohnlücke offenlegen. Die Forderung mancher Arbeitgeberverbände nach einer höheren Schwelle wurde abgelehnt. „Nur eine breite Abdeckung garantiert den Erfolg der Richtlinie”, heißt es im Bericht.

“Das Ziel ist gleicher Lohn für gleiche Arbeit, aber der Weg muss für Arbeitgeber machbar bleiben,” betonte Ministerin Prien bei der Übergabe. Um die administrative Last zu senken, empfiehlt die Kommission digitale Meldesysteme und erlaubt Unternehmensgruppen konsolidierte Berichte.

Gemeinsame Entgeltbewertung: Betriebsrat wird zum Lohn-Detektiv

Der brisanteste Teil für die betriebliche Mitbestimmung betrifft die gemeinsame Entgeltbewertung. Was passiert, wenn ein Unternehmen eine Lohnlücke von 5 Prozent oder mehr ausweist, die nicht durch objektive Kriterien gerechtfertigt werden kann?

Dann greift der neue Mechanismus: Der Betriebsrat wird zwingend eingebunden. Der Abschlussbericht präzisiert die Rolle der Arbeitnehmervertreter:

Verfahrensführung durch bestehende Strukturen: Keine neuen Gremien – der vorhandene Betriebsrat übernimmt die Aufgabe. In Betrieben ohne Betriebsrat bleibt die Mitarbeiterbeteiligung noch teilweise offen, ein Punkt, den der Gesetzgeber nachschärfen muss.

Anhörung statt Mitbestimmungsrecht: Hier zeigt sich eine heikle Abwägung. Die Kommission empfiehlt ein Konsultationsmodell statt eines vollwertigen Mitbestimmungsrechts beim Ergebnis der Prüfung. Der Betriebsrat muss umfassend informiert und gehört werden, erhält aber möglicherweise kein Vetorecht gegen den Sanierungsplan – sofern der Arbeitgeber „wirksame Maßnahmen” ergreift.

Zweistufige Streitbeilegung: Zunächst informiert und hört der Arbeitgeber den Betriebsrat an. Sind sofortige Abhilfemaßnahmen nicht möglich, müssen beide Seiten einen zeitgebundenen „Fahrplan” zur Korrektur vereinbaren.

Rechtsexperten der Kanzlei Oppenhoff bezeichneten die Lösung am 18. November als „pragmatischen Ansatz”, warnten aber: Die Betriebsräte stehen vor einer enormen Herausforderung. Sie müssen komplexe Lohnstatistiken interpretieren – ohne zwingend die nötige Expertise mitzubringen.

Ist-Entgelt und Tarifprivileg: Wo die Tücken lauern

Eine technische Weichenstellung mit weitreichenden Folgen betrifft die Definition von „Entgelt”. Die Kommission spricht sich für das Ist-Entgelt aus – inklusive variabler Bestandteile wie Boni und Zulagen. Damit sollen die Lohnlücken-Zahlen die finanzielle Realität widerspiegeln, einschließlich möglicher Diskriminierung bei Ermessenszahlungen.

Ein weiterer Knackpunkt: das Tarifprivileg. Die Kommission schlägt eine „Angemessenheitsvermutung” für tarifgebundene Unternehmen vor. Vergütungsstrukturen, die durch Tarifverträge definiert sind, gelten automatisch als nicht-diskriminierend – es sei denn, konkrete Beweise widerlegen dies.

Während Arbeitgeberverbände (BDA) diese Rechtssicherheit begrüßen, übt der Bundesverband der Personalmanager (BPM) scharfe Kritik. In einem Sondervotum warnt der BPM: Die Komplexität bei der Prüfung „gleichwertiger Arbeit” über verschiedene Tarifgruppen hinweg könnte trotz Privilegierung zu bürokratischen Albträumen führen, wenn die rechtlichen Definitionen nicht präzise genug sind.

Gesetzgebungs-Sprint bis Juni 2026

Mit dem Abschlussbericht in der Hand beschleunigt die Bundesregierung nun das Gesetzgebungsverfahren. Das zuständige Bundesministerium (BMFSFJ) will bereits im Januar 2026 einen Referentenentwurf vorlegen, um die Umsetzungsfrist einzuhalten und ein Vertragsverletzungsverfahren zu vermeiden.

Zeitplan für Unternehmen:
* Januar 2026: Veröffentlichung des Gesetzentwurfs
* 7. Juni 2026: Richtlinie muss in nationales Recht umgesetzt sein; erste Compliance-Pflichten greifen
* 2027: Erster vollständiger Berichtszyklus für Großunternehmen (basierend auf 2026er-Daten)

Für Betriebsräte heißt die unmittelbare Aufgabe: Weiterbildung. Die neuen Informationsrechte und die mögliche Einbindung in gemeinsame Entgeltbewertungen erfordern fundiertes Wissen über Vergütungsstrukturen und statistische Analysen.

Beweislast dreht sich um – wer wartet, verliert

„Unternehmen, die bis Juni 2026 warten, um ihre Entgeltstrukturen zu prüfen, gehen ein erhebliches juristisches und Reputationsrisiko ein”, mahnten Rechtsexperten der Kanzlei Bird & Bird diese Woche. Der Grund? Die drohende Beweislastumkehr.

Künftig muss der Arbeitgeber nachweisen, dass Lohnunterschiede nicht diskriminierend sind. Proaktive interne Audits sind damit keine Option mehr – sie werden zur geschäftlichen Notwendigkeit. Für viele Personalabteilungen beginnt das Rennen gegen die Zeit bereits jetzt.

Bleibt die Frage: Wird die Balance zwischen Transparenz und Praktikabilität gelingen? Die nächsten Monate werden zeigen, ob der deutsche Gesetzgeber die Empfehlungen der Kommission in handhabbare Paragrafen gießen kann. Der Betriebsrat jedenfalls rüstet sich für eine neue, datengestützte Rolle in der betrieblichen Lohnpolitik.

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