Bundesarbeitsgericht, Headset-Urteil

Bundesarbeitsgericht: Headset-Urteil revolutioniert betriebliche Mitbestimmung

24.11.2025 - 13:49:11

Ein wegweisendes Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) krempelt die Spielregeln für Betriebsräte und Personalabteilungen um. Die Kernbotschaft: Schon die theoretische Möglichkeit zur Überwachung reicht aus – unabhängig davon, ob der Arbeitgeber sie nutzen will oder nicht.

Das BAG hat mit seiner Entscheidung im sogenannten “Headset-Fall” (1 ABR 16/23) eine klare Linie gezogen: Wenn Software ihre Beschäftigten überwachen könnte, muss der Betriebsrat eingebunden werden. Punkt. Die bloße technische Eignung eines Systems zur Verhaltens- oder Leistungskontrolle genügt bereits, um Mitbestimmungsrechte nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG auszulösen. Rechtliche Analysen der vergangenen Tage zeigen: Das Urteil dürfte weitreichende Folgen für den Einsatz von HR-Software in Deutschland haben.

Konkret ging es um ein Headset-System, das Vorgesetzten das “Mithören” von Mitarbeitergesprächen ermöglichte. Das Besondere: Eine Aufzeichnung oder Speicherung fand gar nicht statt. Doch das BAG stellte klar – das spielt keine Rolle. Schon die Möglichkeit zur Echtzeitüberwachung, etwa durch “Silent Monitoring”-Funktionen in Callcentern oder Kommunikationsplattformen, reicht aus.

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Der Grund: Das Gericht sieht einen “Überwachungsdruck” auf die Beschäftigten. Wer weiß, dass der Chef theoretisch jederzeit mithören könnte, verhält sich anders – selbst wenn die Funktion nie genutzt wird. Diese Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte begründet das Mitbestimmungsrecht.

“Arbeitgeber können sich nicht mehr herausreden, ein System sei ‘nicht zur Überwachung gedacht'”, fassen Rechtsexperten zusammen. “Wenn die Software es technisch kann, muss der Betriebsrat ran.”

Gesamtbetriebsrat übernimmt bei zentralen Systemen

Die zweite Brisanz des Urteils betrifft die Zuständigkeitsfrage: Wer verhandelt eigentlich, wenn IT-Systeme zentral verwaltet werden? Das BAG schafft Klarheit – der Gesamtbetriebsrat (GBR) ist am Zug, nicht die örtlichen Betriebsräte.

Im konkreten Fall wurde das System über ein “V-Portal” der Konzernmutter in Dublin administriert. Da technische Steuerung und Entscheidungsmacht auf Konzern- oder Unternehmensebene liegen, sei eine einheitliche Regelung notwendig und sinnvoll, so das Gericht.

Für internationale Konzerne, die globale HR-Plattformen wie Workday, SAP SuccessFactors oder Microsoft 365 einsetzen, ist diese Klarstellung ein zweischneidiges Schwert. Einerseits vereinfacht die Verhandlung mit einem zentralen GBR den Prozess erheblich – keine Dutzende lokaler Betriebsvereinbarungen mehr. Andererseits: Scheitern die Gespräche, steht potenziell der Deutschland-Rollout des gesamten Systems auf der Kippe.

KI-Tools im Visier: EU AI Act verschärft Lage

Während sich das BAG-Urteil auf “klassische” Überwachungstechnik bezieht, sind die Konsequenzen für Künstliche Intelligenz im Personalwesen enorm. Seit August 2024 gilt die EU-KI-Verordnung – und HR-Software fällt schnell in die Kategorie “Hochrisiko-KI”, wenn sie für Recruiting, Aufgabenverteilung oder Leistungsbewertung eingesetzt wird.

Rechtskommentare von Ende November 2024 gehen davon aus, dass der “objektive Eignungsmaßstab” des BAG auch für KI-gestützte Analysetools gilt. Kann ein KI-Tool die Stimmung von Mitarbeitern analysieren, Kündigungswahrscheinlichkeiten prognostizieren oder Leistungskennzahlen auswerten – selbst wenn das nur eine Nebenfunktion ist – greift die Mitbestimmung.

Hinzu kommt die DSGVO-Komponente: Das BAG signalisierte bereits früher, dass zwar die Einhaltung des Datenschutzes Pflicht ist, die konkrete Umsetzung von Datenschutzmaßnahmen in IT-Systemen aber oft mitbestimmungspflichtig wird – sofern sie das Verhalten oder die Leistungsüberwachung der Beschäftigten berührt.

Was Unternehmen jetzt tun müssen

Deutsche Unternehmen sollten ihre bestehenden und geplanten IT-Systeme dringend auf “versteckte” Überwachungsfunktionen prüfen. Features, die als “Qualitätssicherung” oder “Coaching-Tools” vermarktet werden – etwa in MS Teams, Zoom oder Genesys – können jetzt explizite Betriebsvereinbarungen erfordern, bevor sie aktiviert werden dürfen.

Konkrete Handlungsschritte für Personalabteilungen:

  • Technisches Audit durchführen: Alle HR- und Kommunikationssysteme auf Echtzeitüberwachungs- oder Analysefunktionen untersuchen
  • Zuständigkeit klären: Prüfen, ob das System zentral verwaltet wird – dann ist der GBR der richtige Verhandlungspartner, nicht der örtliche Betriebsrat
  • Vereinbarungen aktualisieren: Bestehende IT-Rahmenbetriebsvereinbarungen müssen möglicherweise an die strengere BAG-Definition von “Überwachungseinrichtungen” angepasst werden

Für Betriebsräte bietet das Urteil erhebliche neue Einflussmöglichkeiten. Die Beweislast, dass ein System nicht zur Überwachung geeignet ist, liegt faktisch beim Arbeitgeber – und diese Hürde ist nun deutlich höher.

Ausblick: KI-Welle trifft auf Arbeitnehmerrechte

Der Konflikt zwischen rasanter Technologieeinführung und robusten Arbeitnehmerrechten dürfte sich 2025 weiter verschärfen. Das “Headset-Urteil” setzt einen Präzedenzfall für die kommende Welle KI-gestützter Workplace-Tools. Rechtsexperten erwarten weitere Streitigkeiten über “Predictive Analytics” im Personalwesen, wo die Grenze zwischen “Prozessoptimierung” und “Verhaltenskontrolle” zunehmend verschwimmt.

Unternehmen sind gut beraten, frühzeitig mit ihren Gesamtbetriebsräten in den Dialog zu treten. Die vom BAG geschaffene Klarheit zur GBR-Zuständigkeit bietet die Chance, umfassende und rechtssichere Rahmenvereinbarungen zu etablieren – für heutige Software und künftige KI-Integrationen gleichermaßen.

Denn eines steht fest: Der technologische Fortschritt macht vor Personalabteilungen nicht halt. Doch in Deutschland gilt weiterhin das Primat der Mitbestimmung – gerade wenn es um den Schutz der Beschäftigten geht.

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