Befristete Verträge: Höchstrichterliches Urteil hebelt Tarifautonomie aus
21.11.2025 - 02:20:12Die Bundesarbeitsrichter läuten eine neue Ära ein: Diskriminieren Tarifverträge befristet Beschäftigte, sind sie sofort nichtig – ohne Korrekturzeit für Gewerkschaften und Arbeitgeber. Unternehmen drohen Nachzahlungen in Millionenhöhe.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat am 13. November 2025 eine Entscheidung gefällt, die Arbeitsrechtler als „Zeitenwende” bezeichnen. Der Sechste Senat erklärte Klauseln in Tarifverträgen, die befristet Beschäftigte benachteiligen, für unmittelbar unwirksam – und zwar ohne den Tarifparteien die übliche „Korrekturkompetenz” einzuräumen. Betroffene Arbeitnehmer können direkt Gleichbehandlung verlangen.
Die brisante Botschaft für Personalabteilungen: Wer sich auf gültige Tarifverträge verlässt, sitzt möglicherweise auf einer juristischen Zeitbombe. Denn anders als bei Verstößen gegen das Grundgesetz, wo Gerichte Schonfristen gewähren, greift bei EU-rechtlich fundierten Diskriminierungsverboten die Sofortnichtigkeit.
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„Verstößt eine Tarifnorm gegen das Benachteiligungsverbot des § 4 Absatz 2 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG), ist sie nichtig”, stellte das BAG unmissverständlich klar (Az. 6 AZR 131/25). Unternehmen müssen befristet oder ehemals befristet Beschäftigte sofort gleichstellen – unabhängig davon, was im Tarifvertrag steht.
Der Auslöser war ein Fall aus der Logistikbranche: Ein Zusteller hatte im Juni 2019 befristet angefangen und wurde im Juni 2020 unbefristet übernommen. Ein Tarifvertrag hatte für alle ab dem 30. Juni 2019 eingestellten Mitarbeiter längere Stufenlaufzeiten eingeführt – also verlängerte Wartezeiten bis zur nächsten Gehaltsstufe. Das Unternehmen wandte diese Regelung auf den Kläger an, weil sein „neuer” unbefristeter Vertrag nach dem Stichtag begann. Die bisherige Betriebszugehörigkeit? Faktisch ignoriert.
Doch was bedeutet das konkret für Tausende Beschäftigte in ähnlicher Lage?
Das Ende der richterlichen Zurückhaltung
Bisher gingen deutsche Gerichte behutsam mit Tarifverträgen um. Die Tarifautonomie galt als hohes Gut – entsprechend selten griffen Richter direkt ein. Stattdessen räumten sie Gewerkschaften und Arbeitgebern häufig Fristen ein, fehlerhafte Klauseln nachzubessern.
Damit ist nun Schluss – zumindest wenn EU-Recht im Spiel ist. Der Sechste Senat stellte klar: § 4 Absatz 2 TzBfG setzt die EU-Richtlinie 1999/70/EG zur Befristungsarbeit um. Diese ist „unionsrechtlich überformt”, wie es im Juristendeutsch heißt. Die Konsequenz: Die Sanktionsfunktion des EU-Diskriminierungsrechts verlangt eine sofortige Abhilfe.
„Es besteht keine vorrangige Korrekturbefugnis der Tarifparteien im Anwendungsbereich unionsrechtlicher Benachteiligungsverbote”, so das BAG in seiner Begründung. Dieser Unterschied ist entscheidend: Während das Bundesverfassungsgericht kürzlich die Tarifautonomie bei Verstößen gegen Artikel 3 des Grundgesetzes (allgemeines Gleichheitsgebot) noch geschützt hatte, fordert das EU-Recht einen härteren Standard.
Welche Regelungen sind gefährdet?
Das Urteil trifft nicht nur Logistikunternehmen. Eine Parallelentscheidung vom selben Tag (Az. 6 AZR 132/25) unterstreicht: Die Rechtsprechung gilt branchenübergreifend. Betroffen sind alle Tarifklauseln, die zwischen befristeten und unbefristeten Mitarbeitern unterscheiden – etwa bei:
- Gehaltsstufenprogression (Stufenlaufzeiten)
- Kündigungsfristen
- Sonderzahlungen und Zulagen
- Berechnung der Betriebszugehörigkeit
Rechtsexperten der Kanzlei Stollfuß warnten bereits am 18. November: Das Urteil zwingt HR-Abteilungen zu sofortigen Compliance-Prüfungen. Jede Tarifklausel, die befristet Beschäftigte ohne „sachlich gerechtfertigten Grund” schlechter stellt, birgt jetzt Haftungsrisiken.
Was Arbeitgeber jetzt tun müssen
Die rechtliche Fachwelt reagierte innerhalb von 48 Stunden mit eindringlichen Handlungsempfehlungen. Arbeitsrechtler raten Unternehmen zu drei Sofortmaßnahmen:
Tarifverträge durchforsten: Identifiziere alle Klauseln, die Leistungen oder Aufstiege an den „Befristungsstatus” oder den „Zeitpunkt der Entfristung” koppeln und früher befristet Beschäftigte benachteiligen könnten.
Rückstellungen bilden: Bereite dich auf rückwirkende Gehaltsforderungen (Nachzahlungen) von Mitarbeitern vor, die ungünstigeren Bedingungen unterlagen.
Vergütung angleichen: Setze die Gleichbehandlung sofort um und ignoriere die unwirksamen Tarifklauseln – selbst wenn die Gewerkschaft noch keinen neuen Vertragstext akzeptiert hat.
„Die Entscheidung ist ein Compliance-Weckruf”, kommentierten Analysten auf Rechtsanwalt.com direkt nach der Urteilsverkündigung. „Unternehmen müssen jetzt handeln und Rückstellungen für potenzielle Nachforderungen bilden.”
Kann die Wirtschaft das stemmen? Die Tragweite wird erst allmählich sichtbar.
Gewerkschaften unter Zeitdruck
Das Urteil dürfte eine Welle von Tarifvertragsänderungen in ganz Deutschland auslösen. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände werden sich beeilen müssen, bestehende Verträge an die strikte Auslegung des § 4 TzBfG durch das BAG anzupassen.
Doch für die Übergangszeit hat die Justiz gesprochen: Das individuelle Recht auf Diskriminierungsfreiheit wiegt schwerer als die Verfahrensautonomie der Tarifparteien. Arbeitgeber, die sich auf „Standard-Tarifklauseln” verlassen, müssen nun prüfen, ob diese nicht unbeabsichtigt ihre befristet Beschäftigten benachteiligen.
Mit der ausführlichen Urteilsbegründung, die nun von Rechtsabteilungen bundesweit analysiert wird, ist eine Klagewelle absehbar. Sobald Beschäftigte von ihrem direkten Anspruch auf Gleichbehandlung und faire Gehaltsstufen erfahren, dürften die Arbeitsgerichte nicht leer bleiben.
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