BAG-Urteil, Teilzeit-Überstunden

BAG-Urteil: Teilzeit-Überstunden gleich vergüten wie Vollzeit

08.12.2025 - 18:19:12

Das Bundesarbeitsgericht hat die Regeln für Überstundenzuschläge grundlegend neu definiert. Teilzeitkräfte haben ab sofort Anspruch auf Zuschläge, sobald sie ihre individuell vereinbarte Arbeitszeit überschreiten – nicht erst ab der Vollzeit-Grenze. Das Urteil vom 26. November 2025 (Az. 5 AZR 118/23) zwingt Unternehmen zum sofortigen Handeln und könnte Millionen Beschäftigte betreffen.

Die Entscheidung macht Schluss mit einer jahrzehntelangen Praxis: Tarifverträge, die Überstundenzuschläge erst ab 40 Wochenstunden vorsehen, verstoßen gegen das Diskriminierungsverbot. Für Arbeitgeber bedeutet das: aufwendige Nachzahlungen und umfassende Systemanpassungen stehen bevor.

Der Fall hatte es in sich: Ein Teilzeitbeschäftigter im bayerischen Groß- und Außenhandel klagte auf Überstundenzuschläge. Seine Vertragsarbeitszeit: 30,8 Stunden pro Woche. Der geltende Manteltarifvertrag sah jedoch erst ab der 41. Wochenstunde einen Zuschlag von 25 Prozent vor.

Die Praxis war gängig: Arbeitete der Kläger mehr als vereinbart, erhielt er bis zur 40-Stunden-Marke lediglich seinen normalen Stundenlohn. Den Zuschlag, den Vollzeitkollegen für die gleiche absolute Stundenzahl bekamen, verweigerte der Arbeitgeber. Seine Begründung: Der Zuschlag kompensiere die besondere Belastung beim Überschreiten der Vollzeit-Wochenarbeitszeit.

Anzeige

Passend zum Thema Lohnabrechnungssysteme stehen viele Unternehmen jetzt vor der technischen Herausforderung, Zuschläge individuell und korrekt zu berechnen. Ein kostenloses E‑Book erklärt, wie Sie die Arbeitszeiterfassung gesetzeskonform einführen, welche Vorlagen für Stundenzettel funktionieren und wie HR & IT die Umstellung pragmatisch umsetzen – inkl. praxiserprobter Checklisten. Arbeitszeiterfassung jetzt rechtssicher umsetzen

Das BAG wies diese Argumentation eindeutig zurück. Die Regelung verstoße gegen § 4 Absatz 1 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG), urteilten die Richter des Fünften Senats. Die besondere Belastung entstehe für Teilzeitkräfte bereits beim Überschreiten der eigenen vertraglichen Verpflichtung – genau wie bei Vollzeitbeschäftigten.

Die neue Formel: Die Schwelle für Überstundenzuschläge muss proportional zur individuellen Arbeitszeit sinken. Wer vertraglich 20 von 40 Wochenstunden arbeitet, erhält Zuschläge ab der 21. Stunde. Kein Wenn, kein Aber.

Präzedenzfall mit Strahlkraft

Rechtlich ist das Urteil der Schlusspunkt einer Entwicklung, die im Dezember 2024 begann. Damals hatte das BAG erstmals entschieden (8 AZR 370/20), dass die Verweigerung von Zuschlägen an Teilzeitkräfte eine mittelbare Geschlechterdiskriminierung darstellt – schließlich arbeiten überwiegend Frauen in Teilzeit.

Doch die aktuelle Entscheidung geht weiter: Sie verankert den Anspruch direkt im Teilzeitgesetz, unabhängig von statistischen Nachweisen zur Geschlechterverteilung. Das macht die Rechtslage glasklar und die Durchsetzung für Betroffene deutlich einfacher.

“Das BAG hat die letzten Schlupflöcher geschlossen”, analysiert die Fachzeitschrift Haufe diese Woche. Arbeitgeber könnten sich nicht länger auf “sachliche Gründe” für unterschiedliche Überstundenschwellen berufen. Der mathematische Proporz ist nun der einzige rechtssichere Standard.

Handlungsdruck für Unternehmen

Die wirtschaftlichen Folgen sind unmittelbar spürbar. Besonders Branchen, die auf flexible Teilzeitkräfte zur Abdeckung von Lastspitzen setzen – Handel, Logistik, Pflege –, sehen sich plötzlich steigenden Lohnkosten gegenüber.

Was Arbeitgeber jetzt tun müssen:

Lohnabrechnungssysteme umstellen – und zwar sofort. Die Zuschlagsberechnung muss auf individuelle Vertragsarbeitszeiten umgestellt werden, nicht auf pauschale Schwellenwerte. IT-Abteilungen und Personalverantwortliche stehen vor aufwendigen Anpassungen.

Rückwirkende Ansprüche prüfen: Das Urteil präzisiert geltendes Recht, schafft also kein neues. Beschäftigte können daher Nachzahlungen für bis zu drei Jahre geltend machen – sofern nicht kürzere Ausschlussfristen im Arbeitsvertrag vereinbart sind. Verjährungsfristen und tarifliche Regelungen müssen individuell geprüft werden.

Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen überarbeiten: Bestehende “40-Stunden-Klauseln” sind in diesem Punkt unwirksam. Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) stellte bereits am Freitag klar: Den Tarifparteien steht keine Schonfrist zu. Der Anspruch besteht unmittelbar.

Kostenrisiko für die Wirtschaft

Für Unternehmen bedeutet das Urteil mehr als nur administrative Mehrarbeit. Die jahrelang praktizierte “Flexibilitätsprämie” – Teilzeitkräfte als kostengünstige Überstunden-Puffer einzusetzen – ist faktisch eliminiert.

Branchen mit hoher Teilzeitquote müssen mit spürbaren Mehrkosten rechnen. Ein Rechenbeispiel: Eine Einzelhandelskette mit 10.000 Teilzeitbeschäftigten, die durchschnittlich fünf Überstunden pro Monat leisten, zahlt bei einem Stundenlohn von 15 Euro und 25 Prozent Zuschlag künftig monatlich zusätzlich 187.500 Euro – allein für die neu zuschlagspflichtigen Stunden zwischen individueller Vertragsgrenze und 40-Stunden-Schwelle.

Was kommt jetzt?

Der konkrete Fall geht zurück ans Landesarbeitsgericht Nürnberg – allerdings nur noch zur Berechnung der exakten Nachzahlungshöhe. Die Vorinstanz hatte die genauen Arbeitsstunden nicht dokumentiert. Die Rechtsfrage ist entschieden.

Gewerkschaften bereiten sich bereits auf offensive Nachforderungen vor. Betriebsräte werden ermutigt, systematische Überprüfungen der Lohnabrechnungen der vergangenen Jahre einzufordern. Arbeitsrechtskanzleien rechnen mit einer Klagewelle in den kommenden Monaten.

Für den deutschen Arbeitsmarkt markiert das Urteil einen konsequenten Gleichstellungsschritt. Die strikte mathematische Gleichbehandlung von Voll- und Teilzeit bei Mehrarbeit ist nun Gesetz – nicht verhandelbar, nicht tariflich abdingbar.

Arbeitgeber sind gut beraten, ihre Vergütungssysteme proaktiv anzupassen. Denn eines ist sicher: Die Zeit der Teilzeit-Rabatte bei Überstunden ist endgültig vorbei.

Hinweis: Dieser Artikel gibt die aktuelle Rechtsentwicklung wieder und stellt keine individuelle Rechtsberatung dar. Arbeitgeber und Beschäftigte sollten ihre spezifische Situation mit qualifizierten Fachanwälten für Arbeitsrecht klären.

Anzeige

PS: Rückwirkende Ansprüche und drohende Nachzahlungen machen jetzt schnelle rechtliche und technische Absicherung notwendig. Der kostenlose Leitfaden zur Arbeitszeiterfassung zeigt in kompakten Schritten, welche Dokumentation Sie brauchen, welche Fristen gelten und liefert sofort einsetzbare Vorlagen für Stundenzettel und Lohnbuchhaltung – ideal für HR und IT bei der Umstellung. Jetzt kostenlosen Arbeitszeiterfassungs-Leitfaden herunterladen

@ boerse-global.de