BAG-Urteil, Sofortige

BAG-Urteil: Sofortige Überstundenzuschläge für Teilzeitbeschäftigte

26.11.2025 - 23:49:12

Das Bundesarbeitsgericht stärkt die Rechte von Millionen Teilzeitbeschäftigten in Deutschland – und lässt Tarifpartnern keine Schonfrist. Arbeitgeber müssen ab sofort umstellen. Was bedeutet das konkret für Unternehmen und HR-Abteilungen?

Mit einer Grundsatzentscheidung vom heutigen Mittwoch hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt einen Paradigmenwechsel eingeleitet: Teilzeitbeschäftigte haben Anspruch auf Überstundenzuschläge unmittelbar nach Überschreiten ihrer individuell vereinbarten Arbeitszeit – und zwar sofort. Tarifklauseln, die diese Zuschläge erst ab der Vollzeit-Schwelle von 40 Stunden gewähren, sind diskriminierend und damit unwirksam. Die Richter verweigerten den Tarifparteien explizit eine Übergangsfrist zur Anpassung der Regelungen.

Der Fünfte Senat des BAG (Az. 5 AZR 118/23) erklärte Tarifverträge für rechtswidrig, die Teilzeitbeschäftigte erst ab der gleichen Stundenzahl wie Vollzeitkräfte mit Überstundenzuschlägen entlohnen. Eine solche Regelung verstoße gegen das Verbot der Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten nach § 4 Abs. 1 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG).

„Eine Tarifbestimmung, nach der Überstundenzuschläge erst ab der 41. Stunde zu zahlen sind, verstößt gegen das Benachteiligungsverbot”, heißt es in der Pressemitteilung 42/25. Die Richter betonten, dass die Benachteiligung nur durch eine proportionale Absenkung der Zuschlagsschwelle ausgeglichen werden könne.

Konkret bedeutet das: Wer vertraglich 30 Stunden arbeitet, muss bereits ab der 31. Stunde den gleichen prozentualen Zuschlag erhalten wie ein Vollzeitbeschäftigter ab der 41. Stunde. Die bisherige Praxis, wonach Teilzeitkräfte erst nach Erreichen der Vollzeitgrenze Zuschläge bekommen, ist damit Geschichte.

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Keine Schonfrist für Arbeitgeber

Besonders brisant: Das BAG verweigerte den Tarifpartnern eine „Korrekturperiode”. In früheren Rechtsfällen zu Ungleichbehandlung hatten Gerichte Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden oft Zeit eingeräumt, diskriminierende Klauseln nachzuverhandeln.

Doch die Erfurter Richter stellten unmissverständlich klar: Teilzeitbeschäftigte haben sofort Anspruch auf die Zuschläge. „Ohne dass den Tarifvertragsparteien zuvor die Möglichkeit zur Korrektur ihrer diskriminierenden Regelung eingeräumt werden müsste”, so das Gericht.

Diese Klarstellung beendet die Rechtsunsicherheit, die seit dem BAG-Grundsatzurteil vom 5. Dezember 2024 bestand. Damals hatten die Richter zwar das Prinzip der Gleichbehandlung bei Überstundenvergütung etabliert, Fragen zur praktischen Umsetzung in bestehenden Verträgen aber offengelassen.

Der Fall: Bayerischer Lagerarbeiter gegen Arbeitgeber

Geklagt hatte ein Teilzeit-Lagerarbeiter aus dem bayerischen Groß- und Außenhandel mit einem Vertrag über 30,8 Wochenstunden. Der geltende Manteltarifvertrag sah Überstundenzuschläge von 25 Prozent erst ab der 40. Arbeitsstunde vor.

Die Folge: Für Stunden zwischen 30,8 und 40 erhielt der Kläger nur seinen regulären Stundenlohn – während ein vollzeitbeschäftigter Kollege bereits ab der 41. Stunde Zuschläge bekam. Das BAG wertete dies als mittelbare Diskriminierung, da Frauen die Mehrheit der Teilzeitbeschäftigten stellen.

Was Arbeitgeber jetzt tun müssen

Das Urteil hat unmittelbare Konsequenzen für HR-Abteilungen in ganz Deutschland. Unternehmen, die an Tarifverträge mit entsprechenden „Vollzeit-Schwellen” gebunden sind, müssen ihre Lohnabrechnungssysteme sofort anpassen.

Zentrale Handlungsfelder:

  • Tarifverträge prüfen: Gibt es Klauseln, die Überstundenzuschläge an eine Pauschal-Schwelle (z.B. 40 Stunden) statt an individuelle Vertragsgrenzen koppeln?
  • Abrechnungssysteme anpassen: Mehrarbeitszuschläge müssen ab sofort greifen, sobald Teilzeitbeschäftigte ihre spezifische Vertragsstundenzahl überschreiten.
  • Rückforderungen einkalkulieren: Betroffene können rückwirkend Ansprüche geltend machen. Die reguläre Verjährungsfrist beträgt drei Jahre, tarifliche Ausschlussfristen können die Haftung allerdings auf die letzten 3-6 Monate begrenzen.

Arbeitsrechtler warnen: Die Strategie, das Urteil bis zur nächsten Tarifrunde zu ignorieren, ist keine Option mehr. Der vom Gericht vorgeschriebene automatische Anpassungsmechanismus bedeutet, dass die finanzielle Haftung unabhängig vom geschriebenen Tariftext besteht.

Europäischer Druck und Rechtswandel

Die heutige Entscheidung markiert den Höhepunkt einer Entwicklung, die maßgeblich vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorangetrieben wurde. In den vergangenen Jahren hatte der EuGH wiederholt entschieden, dass eine schlechtere Behandlung von Teilzeitbeschäftigten bei Überstundenvergütung einen finanziellen Anreiz gegen Teilzeitarbeit schafft – und häufig eine mittelbare Geschlechterdiskriminierung darstellt.

Das BAG hatte diese Richtung bereits im Dezember 2024 mit seinem Urteil (Az. 8 AZR 370/20 u.a.) eingeschlagen, das jahrzehntelange deutsche Rechtstradition kippte. Die heutige Entscheidung schließt nun das letzte Schlupfloch, indem sie jede Übergangsfrist verweigert.

Kosten und Konsequenzen

Gewerkschaften wie ver.di begrüßen die Rechtsklarheit als wichtigen Schritt zu fairer Bezahlung und Geschlechtergerechtigkeit. Für Arbeitgeberverbände erhöht das Urteil die Kosten für die durch Teilzeitarbeit gewonnene Flexibilität.

Wie hoch die finanzielle Belastung ausfällt? Das hängt von der Anzahl betroffener Beschäftigter und der Häufigkeit von Mehrarbeit ab. Besonders in Branchen mit volatilen Arbeitszeiten – Einzelhandel, Logistik, Gesundheitswesen – dürfte das Urteil spürbare Mehrkosten verursachen.

In den kommenden Monaten ist mit einer Welle von „Klarstellungsvereinbarungen” in verschiedenen Branchen zu rechnen, um Tariftexte formal mit der neuen Rechtsprechung in Einklang zu bringen. Für Beschäftigte ist die Botschaft jedoch schon jetzt eindeutig: Ab sofort muss jede über die vereinbarte Arbeitszeit hinausgehende Stunde mit demselben Zuschlagssatz vergütet werden wie die Überstunden von Vollzeitbeschäftigten.

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