Arbeitsrecht: Streiks für Allgemeinverbindlichkeit sind zulässig
29.12.2025 - 14:43:12Ein Gerichtsurteil bestätigt die Zulässigkeit von Solidaritätsstreiks zur Erzwingung branchenweiter Tarifverträge. Die Entscheidung stärkt die Position der Gewerkschaften erheblich.
Ein neuer Konsens im Arbeitsrecht stärkt die Position der Gewerkschaften erheblich. Das Landesarbeitsgericht Köln hat entschieden, dass Solidaritätsstreiks zur Durchsetzung einer Allgemeinverbindlicherklärung rechtmäßig sind. Jetzt liegt der Fall beim Bundesarbeitsgericht.
Neuer Konsens stärkt Gewerkschaften
Die Rechtslage ist klar: Gewerkschaften dürfen mit Streiks Druck aufbauen, damit Arbeitgeberverbände einen Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) stellen. Das ist das Ergebnis aktueller Analysen des Expertenforums Arbeitsrecht (EFAR). Das Ziel, einen Branchentarifvertrag für alle Betriebe verbindlich zu machen, gilt nun als legitimes Streikziel nach Artikel 9 des Grundgesetzes.
Diese Entwicklung folgt einem wegweisenden Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom Juli 2025. Das Gericht wies eine Schadenersatzklage eines Arbeitgebers in Höhe von 300.000 Euro zurück. Der Vorwurf: Der Streik für eine „gemeinsame Antragstellung“ sei unrechtmäßig gewesen. Die Richter sahen das anders und bestätigten die Zulässigkeit des Arbeitskampfes.
Der Fall: Streik gegen Lohndumping
Der konkrete Fall spielte sich im nordrhein-westfälischen Einzelhandel ab. Eine Gewerkschaft rief zu einem 24-stündigen Solidaritätsstreik in einem Tochterunternehmen auf. Damit sollte ein Haupterstreit in einem Schwesterunternehmen desselben Konzerns unterstützt werden.
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Das Hauptziel war nicht nur eine tarifliche Lohnerhöhung. Die Gewerkschaft wollte vor allem erreichen, dass die Tarifparteien gemeinsam die Allgemeinverbindlichkeit der Vereinbarung beantragen. Der Arbeitgeber der Tochtergesellschaft klagte auf Schadenersatz – und scheiterte vor zwei Instanzen.
Das Gericht urteilte, der Streik sei verhältnismäßig. Das Ziel, eine AVE zu erreichen, sei untrennbar mit der Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen verbunden. Ein Streik für die Allgemeinverbindlichkeit soll Lohndumping verhindern und faire Wettbewerbsbedingungen in der gesamten Branche sichern. Ein solches Ziel stehe unter dem Schutz der Verfassung.
Folgen für die Tariflandschaft
Diese Rechtsauffassung hat erhebliche praktische Konsequenzen. In Branchen mit bröckelnder Tarifbindung – wie dem Einzelhandel – sind Gewerkschaften zunehmend auf AVEs angewiesen, um Mindeststandards zu stabilisieren. Eine Allgemeinverbindlichkeit setzt jedoch typischerweise einen gemeinsamen Antrag von Gewerkschaft und Arbeitgeberverband voraus.
Arbeitgeber argumentierten bisher oft, die Entscheidung für einen AVE-Antrag sei ein rein prozeduraler Akt, der nicht mit Streik erzwungen werden könne. Die jüngste Rechtsprechung entkräftet diese Unterscheidung. Könnten Gewerkschaften nicht für den Antrag streiken, wäre ihnen ein Schlüsselinstrument genommen, um die Wirkung von Tarifverträgen flächendeckend durchzusetzen.
Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts steht aus
Der Rechtsstreit ist jedoch noch nicht endgültig entschieden. Der unterlegene Arbeitgeber hat Revision beim Bundesarbeitsgericht eingelegt (Az. 1 AZR 139/25). Die Entscheidung der obersten Arbeitsrichter wird richtungsweisend sein.
Bestätigt das BAG die Kölner Linie, wäre das Recht, für AVE-Anträge zu streiken, dauerhaft verankert. Das könnte eine Welle ähnlicher Arbeitskämpfe in zersplitterten Branchen auslösen. Eine Zurückweisung würde Streikziele hingegen strikt auf direkte Tarifverhandlungen zwischen den konkreten Parteien beschränken und den Spielraum für rechtmäßige Arbeitskämpfe verkleinern.
Ausblick: Erhöhtes Streikrisiko für Konzerne
Bis zum Urteil des Bundesarbeitsgerichts – voraussichtlich 2026 – nutzen Gewerkschaften die Kölner Rechtsprechung als Hebel in laufenden Verhandlungen. Für Arbeitgeber, besonders in Konzernstrukturen, steigt das Risiko von Solidaritätsstreiks. Tochtergesellschaften könnten gezielt unter Druck gesetzt werden, um branchenweite Regelungen zu erzwingen.
Rechtsberater raten Unternehmen daher, ihre Risikobewertung für Arbeitskampfmaßnahmen zu überprüfen. Die Grenze zwischen „internen“ Tarifstreitigkeiten und „externen“ Regulierungszielen verwischt sich zunehmend. Die Anhörung vor dem Bundesarbeitsgericht wird in den kommenden Monaten erwartet. Bis dahin bleibt das Kölner Urteil der maßgebliche rechtliche Standard.
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