Widersprüchliche Signale und zwei Szenarien für den Dow Jones
Sehr verehrte Leserinnen und Leser,
mit ihren neuen Hochs in der Vorwoche sind insbesondere die US-Indizes weiter auf dem Weg nach oben. Was soll sie noch aufhalten? Schließlich haben die einschlägigen Argumente (und ein paar neue; siehe unten) bisher weder die Bullen bremsen noch die Bären aus der Reserve locken können…
Klassische Überkauft-Indikatoren im unkritischen Bereich
Sven Weisenhaus hat in der Vergangenheit hier wiederholt auf die fundamentale Überbewertung und die charttechnische Überkauftheit der Aktienmärkte hingewiesen. Das will ich heute nicht wiederholen, sondern lieber ein paar neue Argumente anbringen, die für bzw. gegen eine Korrektur oder Ähnliches sprechen.
In der Charttechnik gilt der Relative-Stärke-Index (RSI) als klassischer Überkauft-/Überverkauft-Indikator. Wie bei allen solchen Indikatoren gibt es keine völlig eindeutigen Signalbereiche, aber erfahrungsgemäß liegt eine gefährlich überkaufte Situation dann vor, wenn dieser Indikator (in seiner Standardeinstellung über 14 Perioden) bei mehr als 80 Punkten (von 100 möglichen) steht.
Dies war bei den US-Indizes zuletzt ab Dezember 2017 (auf Wochenbasis) bzw. ab Mitte Januar 2018 (auf Tagesbasis) der Fall. Und bekanntlich gab es ab Ende Januar 2018 einen heftigen Rückschlag. Im NASDAQ 100 erreichten der Tages- und Wochen-RSI zudem Ende 2019/Anfang 2020 dieses kritische Niveau – also unmittelbar vor dem Corona-Crash! – und der Tages-RSI überstieg im NASDAQ 100 zudem im April 2019 und im September 2020 (zu diesem Zeitpunkt zusammen mit dem Tages-RSI des S&P 500) die 80-Punkte-Marke. Auch in diesen beiden Fällen folgten merkliche Korrekturen.
Aktuell sind die US-Indizes mit RSI-Werten zwischen gut 51 und knapp 74 Punkten (auf Tages- bzw. Wochenbasis) noch mehr oder weniger weit von diesem kritischen Niveau entfernt.
Aus übergeordneter Sicht sind weitere Warnsignale erkennbar
Anders ist der Eindruck, wenn man die Monatswerte mit einbezieht (siehe folgender Chart):
Danach ist es offenbar so, dass bereits RSI-Werte oberhalb von 70 Punkten kritisch sind – wenn sie auf Tages-, Wochen- und Monatsbasis (nahezu) zeitgleich auftreten (siehe rot markierte Zeiträume in den drei unteren Chartteilen). Darüber hinaus reicht es auch, wenn nur zwei dieser Indikatoren diese Marke überschreiten, während der dritte eine Divergenz zum Kursverlauf aufweist (siehe rote Linien).
Und aktuell ist es eben so, dass beim Dow Jones alle drei RSIs über oder nahe der 70-Punkte-Marke notieren: Der Monats-RSI wird im Mai diese Schwelle überschreiten, sofern der Kurs am 31.5. bei mindestens 34.225 Punkten steht. Der Wochen-RSI liegt schon einige Wochen über dieser Marke und könnte dort leicht verharren, der volatile Tages-RSI bewegt sich ebenfalls wieder auf 70 Punkte zu und kann diese Marke quasi jederzeit wieder überwinden.
Der stärkste Anstieg seit 1934!
Und nach wie vor ist der steile Anstieg nach dem Corona-Crash ein Überkauft- bzw. Übertreibungssignal. So hat der Dow Jones seit seinem (Wochen-)Tief im März 2020 per Ende vergangener Woche mehr als 81 % zugelegt (siehe rote Kurve im Chart). Da ist der stärkste Anstieg in diesem Zeitraum seit 1934, also seit der Erholung nach dem epischen Crash von 1929-1932!
Nun darf man darüber streiten, inwiefern eine weltweite Pandemie ein ähnlich einschneidendes Ereignis ist, deren Überwindung von den Börsianern entsprechend gefeiert wird. Doch während damals die Kurse um fast 90 % einbrachen, waren es wegen Corona „nur“ 38 %. Die Aktienmärkte haben also ihren damaligen Einbruch längst mehr als wettgemacht!
Wir könnten hier noch andere Indizien betrachten, aber diese Beispiele mögen genügen. Zumal ohnehin viele Anleger den Eindruck haben, dass sich die Kurse ihren Hochs nähern.
Positiv: Weiterhin große Marktbreite
Aber wie ich hier schon mehrfach betont habe, gibt es weiterhin auch ausgesprochen bullishe Signale. Diese kommen nach wie vor hauptsächlich von den sogenannten Marktbreite-Indikatoren.
So markierten am Freitag 552 Aktien an der US-Börse NYSE gemeinsam mit dem Dow Jones, dem S&P 500 und dem NYSE Composite ein neues Allzeit- bzw. 52-Wochen-Hoch. Das war der höchste Wert seit Anfang November 2010 (!) – also als die Aktienmärkte mehr und mehr deutlich machten, dass sie die Finanzkrise abhaken und einen neuen Aufwärtstrend starten wollen.
Damit haben rund 16 % aller NYSE-Aktien an einem Tag gleichzeitig ein neues Hoch erreicht – ein sehr hoher Wert, der seit Oktober 2005 (seitdem diese Zahl erfasst wird) erst an 9 Tagen übertroffen wurde. Bereits mehr als 12 % Aktien mit neuen 52-Wochen-Hochs an einem Tag gelten als starkes Trendsignal, dem sehr oft steigende Kurse folgen.
Charttechnik, hilf!
Und bei allen Überkauft-Indikatoren – auch bei denen, die ich erwähnt habe – gilt, dass sie immer noch weiter steigen oder aber beliebig lange auf ihrem hohen Niveau bleiben können, ohne dass es zu der Korrektur kommt, auf die sie vermeintlich hinweisen.
Und weil die Aktienmärkte nun auf neue Hochs ausgebrochen sind, bleiben nur wenige charttechnische Hilfsmittel, um relevante Widerstände zu erkennen. Abhilfe bietet jedoch die Target-Trend-Methode (siehe folgender Chart).
Die charttechnische Lage
Zunächst aber die charttechnische Interpretation: Nach seiner Erholung vom Tief im März 2020 durchlief der Dow Jones relativ zügig seinen alten Aufwärtstrend seit 2009 und bestätigte am Ende erneut den Ausbruch daraus (siehe Pfeil 1). Damit bildete er zugleich einen neuen Aufwärtstrend (dünne dunkelgrüne Linien). In diesem folgte er aber zunächst einem flacheren Trend (schwarze Linien).
Ein Rücksetzer an die untere grüne Linie (siehe Pfeil 2), der etwas früher als erwartet nach oben drehte, deutete den Ausbruch aus dem schwarzen Kanal an, der kurz danach erfolgte (siehe Pfeil 3) und durch einen weiteren Rücksetzer (siehe Pfeil 4) bestätigt wurde. Damit wurde zugleich ein weiterer (kurzfristiger), grün schattierter Aufwärtstrend bestätigt (siehe Pfeil 5), in dem der Kurs zurzeit noch läuft.
Aus charttechnischer Sicht sollte der Kurs im weiteren Verlauf wieder bis an die obere dünne dunkelgrüne Linie laufen, um die intakte Aufwärtsbewegung in diesem Trend zu beweisen. Bis es soweit ist, dürfte es aber noch eine Weile dauern, so dass wir aus charttechnischer Sicht zurzeit wenig Anhaltspunkte haben.
Übereinstimmung mit der Target-Trend-Methode
Einzige Ausnahmen: die runde 35.000-Punkte-Marke (rot gestrichelt), die als möglicher psychologischer Widerstand eine Rolle spielen kann sowie die Oberkante des kleinen grün schattierten Kanals, die aktuell knapp drüber verläuft. Bemerkenswert ist, dass knapp unter der 35.000er Marke die Mittellinie eines der Rechtecke nach der Target-Trend-Methode liegt, die der Dow Jones am Freitag erreicht hat.
Hier ist also sowohl aus charttechnischer Sicht als auch nach der Target-Trend-Methode mit einer kleinen Konsolidierung zu rechnen. Möglich ist natürlich auch ein größerer Rücksetzer, z.B. an die Rechteckkante bei 33.129,55 Punkten. Doch dagegen spricht die erwähnte große Marktbreite.
Mit Blick darauf sollte der Dow Jones im grün schattierten Kanal bleiben und bei 35.000 Punkten bzw. an der Rechteckmittellinie eine kleine Konsolidierung absolvieren. Danach könnte der Anstieg zu dem eigentlichen Kursziel, der nächsten Rechteckkante bei 36.386 Punkten, folgen.
Alternativszenario bis zu Fed-Sitzung und großem Verfallstag
Die Alternative ist, dass der Dow Jones an der 35.000er Marke bzw. Mittellinie scheitert, wobei ich es für recht wahrscheinlich halte, dass die Bullen zumindest den Ausbruch nach oben versuchen, und wir daher einen Fehlausbruch an diesen Niveaus sehen. Danach könnte eine Konsolidierung in Richtung des roten Targets folgen.
Dieses Szenario ist unter Umständen auch aus Sicht des (kleinen) Verfallstags am 21. Mai möglich – wenn es den Stillhaltern und Bären gelingt, die Ausbruchsversuche der Bullen abzuwehren. Dann könnte – mit Blick auf die wichtige Fed-Sitzung Mitte Juni (bei der es eventuell neue geldpolitische Beschlüsse gibt) – eine Unsicherheitsphase folgen, die zu einer Konsolidierung führt.
Das rote Target sollte dann theoretisch nach 18 Handelstagen erreicht werden, also – unter Berücksichtigung des Börsen-Feiertags am 31.5. – am 3. Juni. Insbesondere, wenn die Konsolidierung danach weitergeht (z.B. bis zur Fed-Sitzung), dürften Fed-Sitzung und großer Juni-Verfallstag (18.6.) die Entscheidung über den weiteren Verlauf bringen.
Denn bis dahin wäre der Kurs aus dem großen grünen Kanal hinausgelaufen und in den schwarzen zurückgefallen. Damit hätten sich die charttechnischen Bedingungen für die Bullen verschlechtert, so dass ihnen nur noch ein Befreiungsschlag helfen würde. Ob ihnen dieser gelingt, wird dann wohl von der Fed abhängen bzw. davon, wie weit die Börsianer eventuelle unangenehme gelbpolitische Beschlüsse – z.B. eine Drosselung der Anleihekäufe – bereits eingepreist haben oder nicht.
Mit besten Grüßen
Ihr Torsten Ewert
(Quelle: www.stockstreet.de)