Der ukrainische Präsident Selenskyj warnt beim Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Granada davor, Russland eine Pause zu geben.
05.10.2023 - 15:46:34Europa-Gipfel in Granada mit Selenskyj. «Russland versucht, die Lage einzufrieren», so Selenskyj.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat vor einem Waffenstillstand und einem Einfrieren des Konflikts in seinem Land gewarnt. Wenn Russland jetzt eine Pause bekomme, dann werde es bereits 2028 sein bisher durch den Krieg verbrauchtes militärisches Potenzial wieder erlangt haben, sagte Selenskyj in Granada beim Gipfeltreffen der neuen Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG). In seinem Expansionsdrang werde der Angreifer Russland dann «stark genug sein, andere Länder anzugreifen».
Besondere Gefahr sieht der Ukrainer demnach vor allem für die baltischen Staaten, die ebenfalls einst Teil der Sowjetunion waren. «Russland versucht, die Lage einzufrieren und sich anzupassen. Es lernt aus seinen Fehlern und bereitet sich darauf vor, sich weiter vorwärts zu bewegen», sagte Selenskyj und berief sich dabei auf Angaben von Geheimdiensten. «Der gefährlichste Feind ist jener, der seine Schlussfolgerungen gezogen hat, um sich auf den nächsten Angriff vorzubereiten», betonte er. Moskau strebe nach imperialem Einfluss, um eine freie Entwicklung demokratischer Staaten in Europa zu verhindern und die Einheit auf dem Kontinent zu brechen.
Eingefrorene Konflikte als Taktik
Selenskyj verwies darauf, dass Moskau seit Jahren versuche, mithilfe von Kriegen und eingefrorenen Konflikten seine Kontrolle über Nachbarstaaten zu erhalten. «Russland hat Moldau geschadet, versuchte Georgien zu zerstören und zu teilen und andere Gebiete des Kaukasus' zu destabilisieren.» 2008 hatte Georgien bei einem Krieg mit Russland die Kontrolle über seine Regionen Abchasien und Südossetien verloren.
Selenskyj rief zur Einheit der Europäer im Kampf gegen die russische Aggression auf. Russland könne nur durch eine Niederlage in seinem Angriffskrieg unschädlich gemacht werden. Die Ukraine sei dazu alleine nicht in der Lage und deshalb auf Hilfe und Sicherheitsgarantien angewiesen, sagte Selenskyj. Mit Blick auf den «politischen Sturm» in den USA appellierte Selenskyj an die Europäer, sich «auf ihre eigenen Stärken» zu besinnen und der Ukraine weiter zu helfen. Er zeigte sich zuversichtlich, dass auch die USA - bisher die größten Unterstützer Kiews - ihre Hilfe künftig fortsetzten würden.
Russischer Angriffskrieg dürfte im Mittelpunkt stehen
In Granada treffen sich Staats- und Regierungschefs aus rund 50 Ländern zum dritten Gipfeltreffen der neuen Europäischen Politischen Gemeinschaft. In dem von Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron initiierten Format wollen die Staaten der Europäischen Union die Zusammenarbeit mit anderen europäischen Ländern verbessern.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und dessen Folgen dürften im Mittelpunkt der Gespräche in Granada stehen. Aus Sicht der EU soll der Gipfel erneut ein klares Zeichen an Kremlchef Wladimir Putin senden, dass sein Land in Europa mittlerweile nahezu vollständig isoliert ist.
Die Beratungen werden allerdings überschattet von Anzeichen einer bröckelnden Unterstützung für die Ukraine. In den USA sind Finanzhilfen für Kiew wegen des internen Haushaltsstreits in der Schwebe. In der EU blockiert das russlandfreundliche Ungarn Hilfen für die Ukraine. Zudem könnte es nach der Wahl in der Slowakei dazu kommen, dass Sieger Robert Fico einen ähnlichen Kurs einschlägt wie Viktor Orban in Ungarn. Fico hatte vor der Wahl angekündigt, er wolle die bei der Bevölkerung unbeliebte Waffenhilfe beenden und der Ukraine nur mehr mit zivilen Gütern helfen, wenn er an die Macht käme.
Selenskyj hatte auch an dem EPG-Gipfel Anfang Juni in Moldau persönlich teilgenommen. Zuletzt war er unter anderem auch bei der UN-Generalversammlung in New York gewesen. Deutschland wird von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei dem Gipfel vertreten. Die einzigen größeren europäischen Staaten, die nicht Teil der EPG sind, sind Russland und dessen Partnerland Belarus.
Borrell: Europa kann USA nicht ersetzen
Europa könnte möglicherweise ausfallende Hilfe der USA für die Ukraine nach Worten des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell nicht völlig ausgleichen. «Europa kann die USA ganz sicher nicht ersetzen», antwortete er auf die Frage eines Journalisten zum Auftakt in Granada.
«Jeder, der nicht will, dass (Russlands Präsident Wladimir) Putin diesen Krieg gewinnt, muss nach einem Weg suchen, wie wir dieses Problem angehen und die Ukraine weiterhin unterstützen können», sagte Borrell. «Europa verstärkt seine Unterstützung, es sind 50 Milliarden Euro für die zivile und wirtschaftliche Seite und 20 Milliarden Euro für die militärische Seite vorgeschlagen», fügte er hinzu. An dem Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs der EU und Vertretern rund 20 weiterer europäischer Staaten in Granada nahm auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj teil.
In einem am Wochenende vom US-Kongress verabschiedeten Übergangshaushalt für die Zeit bis Mitte November sind keine weiteren Hilfen für die Ukraine vorgesehen. Das heißt nicht, dass die USA Kiew nicht mehr unterstützen werden. Allerdings gehen die bisher vom Kongress genehmigten Mittel zur Neige.
EU verdoppelt Hilfe für Berg-Karabach
Die EU verdoppelt die humanitäre Hilfe für die Leidtragenden des Konflikts um die Kaukasus-Region Berg-Karabach. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte an, dass der bisherige Betrag von 5,2 Millionen Euro auf 10,4 Millionen Euro aufgestockt werde. Außerdem sollen 15 Millionen Euro Soforthilfe in den armenischen Haushalt fließen, wie die deutsche Spitzenpolitikerin am Rande des Gipfeltreffens sagte.
Mit der humanitären Hilfe werden nach Angaben der EU schutzbedürftige Menschen in der Krisenregion unter anderem mit Nahrungsmitteln, Gesundheitsleistungen und Unterkünften versorgt. Zudem profitieren von dem Geld auch Menschen, die aus Berg-Karabach nach Armenien geflohen sind.
Aserbaidschan sagt Teilnahme ab
EU-Außenbeauftragter Borrell hat die Absage des geplanten Treffens zwischen Vertretern Armeniens und Aserbaidschans am Rande des Gipfels der neuen Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) bedauert. «Es ist schade, dass Aserbaidschan nicht hier ist. Es ist schade, dass auch die Türkei, der wichtigste Unterstützer Aserbaidschans, nicht hier ist», sagte er in Granada. «Deshalb können wir hier nicht über etwas so Schwerwiegendes sprechen wie die Flucht von mehr als 100.000 Menschen aus ihren Häusern als Folge militärischer Gewalt», sagte der Spanier auf die Frage eines Journalisten.
Er hoffe, dass es zu Gesprächen beider Länder in Brüssel kommen werde. Dabei müsse es darum gehen, eine Ausweitung des Konflikts zu vermeiden und Armenien politisch zu stabilisieren, sagte Borrell.
Die Kaukasusrepublik Aserbaidschan hatte das geplante Treffen zur Konfliktregion Berg-Karabach platzen lassen. Präsident Ilham Aliyev werde wegen der «antiaserbaidschanischen Stimmung» der übrigen Gipfelteilnehmer nicht zum Treffen kommen, hatte die aserbaidschanische Nachrichtenagentur APA am Mittwoch berichtet. Bei dem Treffen sollten auch Vertreter Frankreichs, Deutschlands und der EU anwesend sein. Baku bestand dem Vernehmen nach allerdings zudem auf einer Teilnahme der Türkei, die als Schutzmacht Aserbaidschans in der Region gilt.
Scholz trifft Selenskyj
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird am Rande des Europa-Gipfels im spanischen Granada unter anderen den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni treffen. Das wurde am Donnerstag aus der deutschen Delegation bekannt. Beide Gespräche sind brisant: Bei dem für Donnerstagnachmittag geplanten Treffen mit Selenskyj dürfte es um die Zukunft der deutschen Waffenlieferungen in die Ukraine gehen, nachdem Scholz von einer Bereitstellung der Taurus-Marschflugkörper Abstand genommen hat.
Mit Meloni wird Scholz am Freitag wohl über die finanzielle Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen sprechen, die Bootsmigranten aus dem Mittelmeer retten, um sie dann in Italien an Land zu bringen. Meloni hatte sich in einem Brief an Scholz kürzlich darüber beschwert. Die Bundesregierung verweist darauf, dass die Hilfe bereits vom Bundestag genehmigt wurde und nicht mehr rückgängig zu machen sei.