Baerbock, Kiew

Baerbock in Kiew - Appell für Unterstützung bei Luftabwehr

21.05.2024 - 07:11:37

Baerbock in Kiew - Appell für Unterstützung bei Luftabwehr. Russland verstärkt mit einer Offensive auf Charkiw den Druck auf die Ukraine. Präsident Putin lässt zugleich die Infrastruktur im Land angreifen. Die deutsche Außenministerin will ein Signal senden.

Außenministerin Annalena Baerbock hat angesichts der aktuellen russischen Offensive eindringlich mehr internationale Unterstützung für die Ukraine bei der Luftverteidigung verlangt. «Um die Ukraine vor dem russischen Raketen- und Drohnenhagel zu schützen, braucht sie dringend mehr Luftabwehr», forderte die Grünen-Politikerin zum Auftakt ihres siebten Solidaritätsbesuches in der Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022.

Die Außenministerin war am Morgen zu einem aus Sicherheitsgründen nicht angekündigten Besuch in der Hauptstadt Kiew eingetroffen.

«Wir müssen jetzt alle Kräfte bündeln, damit die Ukraine bestehen kann (...) und damit Putins Truppen nicht bald vor unseren eigenen Grenzen stehen», appellierte Baerbock an die internationalen Partnerländer mit Blick auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Bei der von ihr gemeinsam mit Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gestarteten globalen Initiative für mehr Flugabwehr seien fast eine Milliarde Euro zur zusätzlichen Unterstützung der ukrainischen Luftverteidigungskräfte zusammengekommen. «Und wir arbeiten intensiv daran, dass das noch mehr wird.» Die Ministerin fügte hinzu: «Wir drehen jeden Stein mehrfach um und sind selbst mit einer zusätzlichen Patriot-Einheit vorangegangen.»

Baerbock sagt Besuch in Charkiw aus Sicherheitsgründen ab

Die Ukraine ist aus einem Mangel an Waffen, Munition und Soldaten seit Monaten in der Defensive. Die Millionenstadt Charkiw im Nordosten des Landes wird von Russland über die Grenze hinweg aus kurzer Entfernung bombardiert. Baerbock musste einen eigentlich geplanten Besuch in Charkiw wegen der russischen Angriffe aus Sicherheitsgründen absagen. Sie hatte die zu Beginn des Kriegs von russischen Truppen heftig angegriffene Stadt schon im Januar 2023 besucht und wollte sich erneut über die Situation der Zivilbevölkerung dort informieren.  

Selenskyj beklagt mangelndes Tempo westlicher Hilfen bei Flugabwehr

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wies kurz vor dem Besuch Baerbocks einmal mehr auf die Dringlichkeit von Flugabwehrwaffen hin. Die Ukraine brauche am dringendsten weitere Flugabwehrsysteme und westliche Kampfjets, sagte er am Montag in seiner täglichen Videoansprache. «Leider fehlt es der freien Welt in diesen beiden Fragen an Schnelligkeit.» Aufgrund der Luftüberlegenheit könne Russland mit Gleitbomben Städte und Verteidigungsstellungen der Ukrainer vernichten. Aktiv nutzten die Russen seinen Angaben nach die zerstörerische Taktik an den Frontabschnitten bei Charkiw sowie im Gebiet Donezk in Richtung Tschassiw Jar und Pokrowsk. 

Selenskyj hatte in den vergangenen Tagen mehrfach um die Lieferung von zwei weiteren Flugabwehrsystemen des Typs Patriot gebeten. Damit könne das immer wieder aus der Luft angegriffene Charkiw besser geschützt werden. Die Millionenstadt im Nordosten der Ukraine ist eine der am schwersten vom Krieg getroffenen Orte.  

Deutschland hat dritte Patriot-Einheit zugesagt

Dem Vernehmen nach verfügt die Ukraine bislang über drei der leistungsstarken Flugabwehrsysteme aus US-Produktion. Zwei davon hat Deutschland bereitgestellt, die Bundesregierung hat eine dritte Patriot-Einheit zugesagt. Es gibt allerdings keine Hinweise, ob das System schon in der Ukraine eingetroffen ist. Die dritte derzeit aktive Patriot-Einheit in der Ukraine stammt aus den USA. Washington prüft die Lieferung eines weiteren Systems. Die deutschen Versuche, Patriots bei Partnerländern in Europa oder in Übersee zu beschaffen, haben bislang nicht gefruchtet.

Baerbock: Stehen felsenfest an der Seite der Ukraine

Die Bundesaußenministerin sicherte den Menschen in der Ukraine dauerhafte Unterstützung zu. Putin «spekuliert darauf, dass uns irgendwann die Luft ausgeht, aber wir haben einen langen Atem», erklärte sie. Deutschland stehe gemeinsam mit vielen anderen Ländern aus allen Teilen der Welt felsenfest an der Seite der Ukraine.

«Darauf können die Menschen in der Ukraine dauerhaft bauen.» Das zeige die Bundesregierung im Juni, wenn sie die Welt zur Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine nach Berlin einlade. «Gemeinsam mit unseren Partnern in der Welt und einem starken Bündnis aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Kommunen investieren wir langfristig in eine Zukunftsversicherung für die Ukraine.»

Russische Offensive bei Charkiw - Angriffe auf Infrastruktur

Die aktuelle russische Offensive im Grenzgebiet nahe Charkiw bedroht die Ukraine seit Mitte Mai gleich doppelt. Zum einen zwingt der russische Vorstoß die ukrainische Armee, dort Reserven einzusetzen, die an anderen Stellen der Front fehlen. Der Armeeführung in Kiew zufolge halten die Verteidigungslinien. Trotzdem sind die Russen etwa zehn Kilometer tief auf ukrainisches Gebiet vorgestoßen. Sie könnten bald Artillerie nach vorn bringen, die Charkiw dann zusätzlich zu den Luftangriffen beschießen könnte.

Neben militärischen Zielen hat Russland im März und April vor allem ukrainische Kohlekraftwerke beschossen. Diese sind mittlerweile fast vollständig ausgeschaltet. Auch wichtige Wasserkraftwerke sind beschädigt. Die Regierung in Kiew schätzt, dass mehr als 40 Prozent der Kapazitäten zur Stromproduktion ausgefallen sind. 

Außenministerin Annalena Baerbock hat ein durch russische Raketen zerstörtes Kraftwerk besucht und sich über die angespannte Energieversorgung informiert. Beim Rundgang über das Gelände eines der größten Kraftwerke der Ukraine ließ sich die Grünen-Politikerin die Schäden an der Anlage zeigen. Nach Angaben des ukrainischen Betreibers war das Werk bei einem russischen Angriff Mitte April komplett zerstört worden.

«EU-Beitritt der Ukraine geopolitische Konsequenz aus Angriffskrieg»

Die Bundesaußenministerin nannte einen EU-Beitritt der Ukraine erneut «die notwendige geopolitische Konsequenz aus Russlands völkerrechtswidrigen Angriffskrieg». Das Land habe «beeindruckende Fortschritte gemacht und ist trotz der russischen Zerstörungswut auf Reformkurs». Nun gelte es, in den Anstrengungen für eine Justizreform, bei der Korruptionsbekämpfung und der Medienfreiheit nicht nachzulassen.

Selenskyj zeichnet Baerbock mit Verdienstorden aus

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Außenministerin Annalena Baerbock wegen ihrer Unterstützung für sein Land mit einem Verdienstorden ausgezeichnet. Selenskyj überreichte der Grünen-Politikerin im Präsidialamt in der Hauptstadt Kiew die dritte Stufe des Ordens Jaroslaw der Weise. Selenskyj hatte Baerbock die Auszeichnung bereits zum Jahreswechsel per Erlass zugesprochen. 

Damals wurden unter anderen auch die Bundestagsabgeordneten Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und Anton Hofreiter (Grüne) mit ukrainischen Orden geehrt. Sie wurden mit der dritten Stufe des ukrainischen Verdienstordens ausgezeichnet. Die höchste Stufe des Jaroslaw-Ordens verlieh Selenskyj zum Jahreswechsel an den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, den spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sanchez und den albanischen Regierungschef Edi Rama.

Der Orden ist benannt nach dem Großfürsten Jaroslaw dem Weisen, der von 1019 bis 1054 das mittelalterliche Reich der Kiewer Rus regierte.

Baerbock verteidigt Selenskyjs Legitimität

Für Deutschland ist nach den Worten von Außenministerin Baerbock der ukrainische Präsident Selenskyj auch nach Ablauf seiner fünfjährigen Amtszeit das rechtmäßige Staatsoberhaupt. Es sei Russland, das ein «perfides Spiel» betreibe und Selenskyjs Legitimität in Zweifel ziehe, weil die Ukraine unter Kriegsbedingungen nicht wählen könne, sagte die Grünen-Politikerin in Kiew. «Wir werden die anstehenden Aufgaben weiter gemeinsam mit ihm erfolgreich meistern, gemeinsam an der Verteidigung der Ukraine mitwirken, gemeinsam bei all den Reformprozessen mitwirken», sicherte sie der ukrainischen Führung zu.

«Nichts hätten sich die Menschen mehr gewünscht hier in der Ukraine, als frei wählen zu können in einem freien, nicht besetzten Land», sagte Baerbock. «Der Einzige, der dies verhindert hat, ist der russische Präsident mit seinem brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, in dem er Teile der Ukraine besetzt hält und Menschen in Unfreiheit leben.»

Selenskyjs Amtszeit war nach fünf Jahren am Montag abgelaufen; allerdings bleibt er laut ukrainischer Verfassung im Amt, solange nicht neu gewählt werden kann. Es herrscht in der Ukraine auch ein breiter gesellschaftlicher Konsens, derzeit nicht neu zu wählen. Ähnliche Regelungen gebe es in anderen Verfassungen und auch im deutschen Grundgesetz, sagte Baerbock. 

In Moskau hatten ranghohe Vertreter wie Außenminister Sergej Lawrow oder Ex-Präsident Dmitri Medwedew erklärt, Selenskyj sei nicht mehr rechtmäßig Präsident. Er könne nun als militärisches Ziel betrachtet werden, sagte Medwedew der Agentur Tass. Letztlich sei es aber egal, ob Selenskyj oder ein anderer die von Moskau erwartete bedingungslose Kapitulation der Ukraine unterzeichne.

@ dpa.de